In England hat eine Witwe die Asche ihres Mannes nach der christlichen Totenfeier zu Schießpulver verarbeiten und in Schrotpatronen einfüllen lassen, mit denen die Jagdkollegen des Verstorbenen nun auf Enten schießen sollen. Das, sagt die Witwe, wäre ganz im Sinne ihres Mannes, eines großen Nimrods vor dem Herrn, der durch die Manipulation über den Tod hinaus weiter als begeisterter Jäger aktiv sein könne.
Ein diesbezügliches Testament existiert nicht, aber der Pfarrer hat seine Einwilligung gegeben und die ungewöhnlichen Patronen bereits gesegnet. Der kluge Guardian hingegen gab der vorsichtigen Vermutung Ausdruck, bei dem Schrotkugel-Begräbnis könnte es sich um einen Racheakt der Witwe an ihrem Manne gehandelt haben, da dieser sie zu Lebzeiten zugunsten der Jagd allzu arg vernachlässigte, "ein rechter Hippolyt, der nur der Artemis, nie der Aphrodite huldigte".
Damit wurde auf eine der schauerlichsten Geschichten aus dem antiken Mythenkreis um Artemis angespielt, nämlich auf die Affäre zwischen der Theseus-Gemahlin Phädra und ihrem Stiefsohn Hippolytos, die eigentlich eine Nichtaffäre war. Denn auch Hippolyt kannte nur die Jagd und nichts als die Jagd, er war keusch, keuscher geht’s nicht, hatte für die Ermunterungen und Ermahnungen der Liebesgöttin Aphrodite nur Verachtung übrig.
Da rächt sich Aphrodite und läßt Königin Phädra in rasender Liebe zu ihrem Stiefsohn entbrennen. Und als der kalt bleibt und alle ihre Avancen in den Wind schlägt, erhängt sich Phädra, doch nicht ohne vorher einen bösen, hinterhältigen Brief zu verfassen und auf dem Schreibtisch von Theseus zu hinterlegen. Darin beschuldigt sie Hippolyt der blutschänderischen Verführung und Vergewaltigung. Sein Schicksal ist besiegelt. Er wird von seinem eigenen Vater dem Tode überantwortet.
Euripides hat über das Geschehen ein gewaltiges Drama verfaßt, das auch heute noch oft gespielt wird. Der Chor beklagt darin mit ewigem Greinen die schier absolute und letzten Endes verhängnisvolle Rolle des Eros und der Liebesgöttin, doch auch Artemis kriegt durch die Blume ihr Fett weg. Warum nimmt sie alle Opfergaben des "totalen Jägers" Hippolyt so huldvoll und ohne Tadel entgegen? Weiß sie nicht, was doch inzwischen jeder Jagdgehilfe im Gefolge des Hippolyt weiß und worüber längst offen geredet wird: daß dieser Junge mit seiner einseitigen Jagdleidenschaft ins Unglück rennt? Warum muß es bei den Göttern immer gleich um ein Entweder/Oder gehen?
In Wirklichkeit geht es, wie die Altertumsforschung inzwischen festgestellt hat, gerade bei Artemis keineswegs um ein Entweder/Oder. Artemis ist von Haus aus nicht nur Göttin der Jagd, sondern im gleichen Takt auch, wenn nicht Göttin der Liebe, so doch Göttin der Fruchtbarkeit, der Schwangerschaft und der stillenden Mütter. Homer nennt sie in einem Atemzug "Herrin des Rotwilds, Löwin der Frauen". Im ionischen Ephesus, wo ihr gewaltiger Heimattempel stand, der zu den sieben Weltwundern gehörte, erschien sie als Statue mit tausend Brüsten. Da war nicht die Spur von jener jungfräulichen, schmalhüftigen "absoluten Jägerin", zu der sie die Athener schon zu Euripides‘ Zeiten gemacht hatten.
Artemis war kein Todesengel, sondern Hüterin des Lebens, auch als Jägerin. Jagen und Hegen lagen für sie auf einer Linie. Viele der überlieferten Mythen zeigen, daß ihr Jäger, die immer nur abschießen, umlegen, totmachen wollen, ein Greuel waren. Den schönen, eitlen Meleagros, der dem kalydonischen Eber völlig überflüssigerweise den Fangstoß gab, vernichtete sie. Arkas, der eine trächtige Bärenmutter erlegen wollte, wurde von ihr in einen Stein verwandelt. Jenem verstorbenen Engländer, wenn er denn wirklich zu Schießpulver verarbeitet werden wollte, um noch als Toter (Untoter) tödlich unterwegs zu sein, hätte sie wahrscheinlich bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen.
Auch die berühmt-berüchtigten englischen "Fuchsjagden", denen es jetzt endlich an den Kragen geht, hätten die höchste Mißbilligung der Artemis gefunden. Es wird dort ja nicht gejagt, nicht getötet zum Nutzen der eigenen Lebensfristung und zum Gedeihen des eigenen Nachwuchses, sondern es gibt ein bloßes Spaßvergnügen, ein perverses Töten um des Tötens willen. Eine aufgekratzte Meute sogenannter Gentlemen hetzt mit Geschrei und Trara schöne Tiere sinnlos zu Tode. Und sie mißbraucht dabei aufs Schändlichste die Hetzinstinkte der Hundemeute, die das ganze ihrerseits natürlich keineswegs für einen Spaß hält, die glaubt, es herrsche tödlicher Ernst und die armen Füchslein seien der absolute Feind.
Für solches "Schaujagen" hielt Artemis eine spezielle Bestrafungsmethode in der Hinterhand, die sie zum ersten Mal an dem jungen Aktaion ausprobiert hatte. Dieser entdeckte bei der Hetzjagd mit der Hundemeute plötzlich die nackt badende Artemis an einem stillen Weiher. Er hielt inne, ließ seine Hunde stille sein und riskierte einige freche, amüsierte Blicke. Artemis merkte es und verwandelte ihn umgehend in einen Hirsch, den dann seine eigenen Hunde grausam zu Tode hetzten und zerrissen.
Hätte die Göttin dem Schießpulver-Engländer aber wirklich die Haut abgezogen? Er hat sich doch – genau betrachtet – selber schon am schlimmsten bestraft. Man denke: Für ihn ist das höchste der Gefühle, sich als Schrotpatrone in ein tapferes fliegendes Entenherz zu bohren! Und dabei trifft der Schrot gar nicht ins Herz, nicht einmal in den Magen oder in die Leber. Schrotkugeln bleiben bekanntlich in der Haut ihres Opfers stecken, sie töten indirekt, das Opfer stirbt vor Schreck. Die Kugeln werden beim Rupfen und Braten vom Koch einfach aus der Haut herausgeputzt und landen im Müll.
Es gibt wirklich würdigere Methoden, aufs Paradies zu warten. Die Hölle – das sind die toten Jäger, die um des bloßen Jagens willen arme Enten zu Tode erschrecken.