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Materialschlacht

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Im Zusammenhang mit Christoph Schlingensief von Tabubrüchen zu reden, geht am Kern der Sache vorbei. Wer die Arbeiten und Aktionen des Theatermachers kennt, weiß um dessen Motivation, Kunst zu machen: die (Selbst-)Denunziation. So handelt es sich bei Schlingensiefs Inszenierungen ständig um Selbstpreisgaben, um Scheitern als Chance und um einen künstlerischen Wettbewerb, wer sich am überzeugendsten selbst denunzieren kann.

Schlingensiefs aktuelles Stück "Theater ALS Krankheit – Kunst und Gemüse, A. Hipler" an der Berliner Volksbühne ist eine Installation, eine Ausstellung von Theater, in der die Zuschauer unbeweglich und die Kunstobjekte beweglich sind. Schlingensief will damit am heutigen Verständnis von Kunst rütteln, indem er ihren Archivcharakter demonstriert und das Zitieren von Kunstwerken und Künstlern in einer regelrechten Materialschlacht propagiert: Wagner-Walküren, Fassbinder-Liebling Irm Hermann, Corinna Harfouch, Warhols Factory-Muse Udo Kier, Jörg Immendorff als Nouvelle Vague-Filmregisseur Jean-Luc Godard, der die Matthäus-Passion inszenieren soll, ein McCarthy-Kopf auf einem Venuskörper, vielleicht als Paradiessymbol gemeint, Duchamp-, Kippenberger-, Nauman-, Adorno-Zitate, Anspielungen auf Bernd Eichingers "Der Untergang", King Kong in New York, Catherine David als affektierte Documenta-X-Tussi, Operettensänger Johannes Heesters singt Rühmann und kann sich an die NS-Zeit kaum mehr richtig erinnern.

Während zwischendurch apokalyptische Musiksequenzen das Bühnenchaos untermalen, gerät der hundertjährige Heesters unter Verdacht, selbst ein Nazi zu sein. Schlingensief beschreibt diesen zwanghaft-paranoiden Naziverdacht, der auch bloß suggeriert werden kann, als ein selbstdenunziatorisches Element. Eine kleine Frau an seiner Seite mit Piepsstimme fragt ihn ständig und betont beiläufig: "Bist du ein Nazi? Nazi, Nazi, Nazi?" Heesters werden später im Flugzeug nach New York die Füße gewaschen, ein religiöses Symbol für das Vergeben von Sünden, das in der jüdischen Tradition noch heute verhaftet ist, während Palästinensertuch-tragende afrikanische Terroristen die Fluggäste verschrecken und mahnend die Zwillingstürme im Hintergrund stehen.

Weil der Kunstmarkt gut verstanden hat, daß "Hitler sells", ersetzte Schlingensief im Titel seiner Theatercollage das "t" durch ein "p" (A. Hipler ist eben "hip") und läßt ihn direkt oder indirekt in Videoprojektionen in einem Auto mit Totenkopf und in Eichingers Führerbunker für Voyeuristen anklingen oder auch im Gemüseladen, in dem Hitler ein angebotenes Ausstellungsobjekt unter vielen in der Warenauslage der Kunst bedeutet. Stacheldraht markiert die Bühnenränder, der den Kunstraum der Bühne in ein regelrechtes Kunst-Lager verwandeln soll.

Schlingensief hat dem Verfall des Theaters den Kampf angesagt und setzt Wagner Arnold Schönbergs atonale Tonleiter gegenüber, die durch zwölf Schauspieler inklusive dem "W", das für das Wagnersche Wiederholungsmotiv steht, verkörpert wird. Zwölf Töne stellen aber auch zwölf Buchstaben(-kombinationen) dar, die die Schauspieler zu Beginn des Stücks in der Hand tragen.

Je nachdem, wie sie zueinander stehen, könnte sich eine neue Sprache im direkten wie im abstrakten Sinne ergeben, die den Grenzbereich, in dem Kunst und Poesie stattfinden kann, berührt und in diesen Randzonen als Kommunikationsmittel nicht mehr ordentlich funktioniert, sondern Zeichen und Rätsel des Wirklichen und Möglichen hinterläßt.

Fünfmal tragen zwei Sänger Passagen aus Schönbergs Oper "Von heute auf morgen" vor, die nach dem modernen Menschen fragt. Die Idee der Schönbergschen Atonalität wird hier angewendet, weil Schlingensief durch diese befremdlichen Effekte eines Kunst-Kaleidoskops, die Disharmonien und Zufälligkeiten auf ein neues Theater hofft, das das Prinzip der abstrakten Malerei und der modernen Musik aufgreift. "Was früher die Ölfarbe war, ist heute das Video", wird dem Zuschauer von der Bühne herab erklärt.

Doch in dieser theatralischen Installation geht es vor allem auch um eine Frau namens Angela Jansen, die in ihrem Krankenbett mitten im Publikum liegt. Ein Schlauch beatmet sie, während ihre Augen einen Monitor am Bettgestell fixieren. Sie leidet an ALS (Amyotropher Lateralsklerose), einer unheilbaren Krankheit, die durch allmählich voranschreitende Lähmungen einen Verlust der Mobilität, Stimme und Autonomie bewirkt, während die Erkrankten bei voller Geisteskraft bleiben. "Mir fehlt nichts. Ich kann mich bloß nicht bewegen", schreibt sie mittels EyeGaze, das wie eine Tastatur für die Augen funktioniert und mit einem Laserstrahl die Bewegung der Augäpfel abliest, wenn sie die Buchstaben auf einer Tastatur anvisiert. Ab und zu lächelt sie, wie um den Zuschauern, die ihr Gesicht auf einer Videoleinwand verfolgen können, zu versichern, daß es ihr gutgeht.

Krankheit und Lähmung sollen hier nicht nur den Zustand des Theaters wie des durchschnittlichen Kunstkonsumenten beschreiben, sondern auch die Lähmung, das heißt den Stillstand ganz Deutschlands, das sich weder politisch zu bewegen weiß noch zu definieren vermag und selbst Zuschauer seines eigenen Polittheaters geworden ist. Deswegen ist die Rolle der ALS-Kranken aktiver als die jedes Zuschauers, denn nur durch ihre Augen dirigiert und kommentiert sie über Videoprojektionen das (Bühnen-)Geschehen.

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