Bekanntlich gibt es in der gigantischen Masse der Wagner-Literatur auffällig wenige Werke, die sich mit dem Musiker Wagner befassen. In den letzten Jahren schärfte sich allerdings auch in dieser Richtung der Forscherspürsinn. Einen wertvollen Beitrag liefert nun der Tagungsband eines Würzburger Symposions, das vom Institut der Musikwissenschaft der Julius-Maximilians- Universität Würzburg im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung bereits im Oktober 2000 zum Thema „Der ‚Komponist‘ Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft“ veranstaltet wurde. Schon die Namen der Herausgeber bürgen für Qualität: keine Geringeren als der herausragende Mozart-Quellen-Forscher Ulrich Konrad und der Editionsleiter der Richard-Wagner-Gesamtausgabe, Egon Voss (München) verantworteten seinerzeit das Konzept: „Musikwissenschaftler und Musiktheoretiker sollten vor dem Hintergrund der aktuellen Wagner-Forschung und anhand konkreter Ausschnitte des wagnerschen uvres die Schlagworte kritisch reflektieren, von denen bislang die Analyse der Werke Wagners meist, ausgesprochen oder nicht, ihren Ausgang genommen hat: ‚Leitmotiv‘, ‚dichterisch-musikalische Periode‘, unendliche Melodie´ und ‚Kunst des Überganges‘.“ Wenn Egon Voss etwa zurecht eine Bayreuther Tagung zu den Figuren des „Ring“ kritisiert, in der das Referat zu Wotan auf alle musikalische Analyse verzichtet („niemand schien sich daran zu stoßen“!), wird keine Extremposition, sondern eher der Normalfall markiert. Dagegen bietet die Sammlung der Aufsätze einige sehr genaue Fallbeispiele zum Verhältnis von Ton und Wort, Ideologie und Praxis, die Wagner beim Wort nehmen, indem sie die Musik so genau betrachten, wie sie es verdient (denn, um es gebetsmühlenhaft zu wiederholen: ohne die Musik würde sich vermutlich kein Mensch, weder ein Politikwissenschaftler noch ein Philosoph, um Wagners Thesen kümmern). Schon die Tatsache, daß keine kritische Edition der Schriften, ganz zu schweigen von einer Gesamtaufnahme der verhältnismäßig wenigen musikalischen Werke, existiert, macht die Grundlagenforschung so wichtig. Schließlich kann Voss mit nur wenigen Beispielen belegen, daß die Musik dem Text eine Komponente hinzufügt, die aus der reinen Textlektüre unmöglich erschließbar ist. Frei nach Loriot: eine Wagner-Forschung ohne musikalische Rückversicherung ist möglich, aber (meist) sinnlos. So vermag man zu zeigen, daß die Theorien in „Oper und Drama“ Eines, die Komposition des „Ring“ ein Anderes ist – ebenso wie die populäre Verwendung des meist mißverstandenen Schlagworts der „Unendlichen Melodie“. Die rein philologische Wagner-Deutung kommt spätestens dann an ihr Ende, wenn ihr der Musikwissenschaftler eine Analyse des umstrittenen „Ring“-Finales und seiner alternativen Konzeptionen entgegenhält, die dem Dilemma nicht ausweicht: „Die Vielschichtigkeit seiner Schlußkonzeption ist der Sprache mit ihren begrenzten Mitteln, dem begrifflichen Zwang zum Entweder-Oder nicht mehr zugänglich. Vor der Gleichzeitigkeit der drei verschiedenen Schlüsse muß Sprache versagen. Nicht dagegen die Musik“ (M. H. Schmid). Wenn Ulrich Bartels einige Werk-Skizzen mit den vollendeten Passagen vergleicht und Klaus Döge das beeindruckend dichte „thematische Formgewebe“ im „Lohengrin“ untersucht, bekommt selbst der Laie unter den Lesern einen Begriff von Wagners Kompositionstechnik, in der sich Konstruktion und Inspiration verschwisterten. Daß auch Wagner nicht als Revolutionär auf die Welt kam, ist bekannt – aber mit Hilfe der Musikwissenschaft kann nachgewiesen werden, daß sowohl im Groß- als auch im Kleinbereich klassische Formschemata nach wie vor gültig waren. Wenn am Ende der „Parsifal“ vor dem Hintergrund – und in kritischer Abgrenzung – der Theorien Theodor W. Adornos analysiert wird, wird klar, wieso die genaue Lektüre der Partituren, also die harmonische und formale Analyse, für das Verständnis der Wagnerschen Ideen unabdingbar ist. Man mag bezweifeln, ob das Spätwerk die „statische Partitur“ ist, die Adorno noch in seiner späten Studie zum Werk zu entdecken glaubte. Aber die Sammlung der Aufsätze bestätigt eindrucksvoll, was Adorno einst – erweitert man den Begriff des „Lauschens“ um den des „Lesens“ – in seinem „Parsifal“-Aufsatz forderte: „Die Kunst des Hörens aber, die erlangt wird und die erlernen muß, wer das Werk begreifen will, ist (…) eine des Nachhörens: des Lauschens.“ Ulrich Konrad/Egon Voss (Hrg.): Der ‚Komponist‘ Richard Wagner im Blick der aktuellen Musikwissenschaft. Breitkopf & Härtel, 2003, 32 Euro Abbildung: Richard Wagner