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Jeder ist zuständig

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Ein Gesetzesentwurf des SPD-Bundestagsabgeordneten Rolf Stöckel, der inzwischen auch von FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt und anderen Abgeordneten unterstützt wird, hat die Debatte über Sterbehilfe wieder aufflammen lassen. Es ist die erste derartige Initiative im Bundestag überhaupt. Mit neuer Aktualität wird dadurch auch die Aktionswoche der evangelischen und katholischen Kirche zum Thema „Die Würde des Menschen am Ende seines Lebens“ versehen. Sie findet vom 24. April bis 1. Mai bundesweit statt. Zunächst geht es in dem Gesetzesentwurf um die rechtliche Anerkennung der bereits im Umlauf befindlichen „Patientenverfügungen“. Im gesunden Zustand bestimmen die künftigen Patienten schriftlich, wie im Falle ihrer Bewußtlosigkeit oder Verwirrtheit mit ihnen zu verfahren ist. Bisher fühlen sich die Ärzte oftmals gehindert, diese Krankentestamente umzusetzen, weil sie sich damit der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen könnten. Das geplante Gesetz soll ausdrücklich bestimmen, daß „unterlassene Hilfeleistung“ nicht vorliegt, wenn mündlich oder schriftlich vom Patienten eine weitere medizinische Hilfe abgelehnt wird. Damit würde der Tatbestand der „passiven Sterbehilfe“, der sich zur Zeit in einer rechtlichen Grauzone befindet, ausdrücklich straffrei werden. Ein Sterbehilfe-Gesetz soll also die Selbstbestimmung des Individuums bis zum Ende garantieren. Der oberste Wert unserer Gesellschaftsordnung ist die individuelle Freiheit. Sie kommt vor der häufig zitierten „Menschenwürde“ – denn wer bestimmt, worin diese Würde bestehen soll? Konkret kann sie immer nur darin bestehen, was der einzelne Mensch wünscht, soweit es sich nicht gegen die Interessen anderer richtet. Die Freiheit hat allerdings auch innere Grenzen. Im Notfall schützt der Staat das Individuum vor sich selbst. Doch wann liegt ein solcher Fall vor? Darum geht es beim Thema Sterbehilfe. Es geht also nicht darum, ob ein solches Gesetz sich auch mißbrauchen ließe. „Abusus non tollit usum“, heißt es im römischen Recht: Ein Mißbrauch hebt den Nutzen nicht auf. In unserer Rechtsordnung nimmt man an, daß der Mensch mit seiner Volljährigkeit selbst über sich entscheiden kann, auch wenn er sich schadet. Insbesondere der medizinische Eingriff ist an eine Einverständniserklärung gebunden. Ein Arzt, der ohne Unterschrift operiert, macht sich der Körperverletzung schuldig. Nur in Ausnahmefällen darf und muß auch gegen den Willen des Patienten behandelt werden, nämlich wenn dieser unmündig ist. Das gilt vor allem für Kinder und für Geisteskranke. Beim Selbstmörder greift man rettend ein in der Annahme einer schweren psychischen Krankheit. Die muß aber binnen 48 Stunden durch ein ärztliches Gutachten und richterlichen Beschluß bestätigt sein. Nur in diesem Fall dürfen auch Medikamente zwangsweise verabreicht werden. In Pflegeheimen hingegen verteilt man nicht nur Psychopharmaka ohne Einverständnis der Patienten, sondern ignoriert auch Wünsche nach Einstellung der künstlichen Ernährung. Ähnliches gilt auf Intensivstationen. Keiner ruft einen psychiatrischen Gutachter herbei, um erst festzustellen, ob der Kranke in der Lage ist, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben oder nicht. Daß diese Praxis bisher unauffällig blieb, liegt sicher auch daran, daß Psychischkranke nach der Entlassung oft sehr genau nachfragen, mit welchem Recht sie eingewiesen wurden, während die alten Menschen ihre Bevormundung mit ins Grab nehmen. Andererseits sollte auch nicht übersehen werden, was es bedeuten würde, die direkt oder vorher schriftlich geäußerten Todeswünsche ernst zu nehmen und umzusetzen. Die Gesellschaft würde damit nämlich anerkennen, daß es Situationen gibt, in denen ein Selbstmord durchaus vernünftig und akzeptabel ist. Welche Umstände das sind, müßte ebenfalls allgemein definiert werden. In allen Sterbehilfe-Entwürfen spielt die medizinische Beurteilung eine ausschlaggebende Rolle. Es entscheidet also nicht nur das Individuum – sonst müßte ja jeder Selbstmord gebilligt werden -, sondern auch die allgemeine Auffassung darüber, was „hoffnungslos“ oder „unerträglich“ bedeutet. Damit würde tatsächlich in gewissem Sinne eine gesellschaftlich sanktionierte Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwerten Leben getroffen, die der Betroffene nur nachzuvollziehen hat. So „dürfte“ ein 86jähriger mit Krebs nach dem neuen Gesetzesentwurf ruhig sterben, während die 18jährige Magersüchtige weiterhin gegen ihren Willen gerettet wird. Der Hang zur Selbstvernichtung gilt also beim jungen, noch potentiell leistungsfähigen Menschen als krankhaft und behandlungsbedürftig, bei alten, ohnehin „unnützen“ Patienten hingegen als durchaus gesund. Wenn diese Wertungsweise sich in Übereinstimmung mit den ökonomischen Erfordernissen befindet, heißt das nicht automatisch, daß sie falsch ist. Schließlich wird auch die Berufswahl – als wichtige Lebensentscheidung – sowohl von persönlichen Vorlieben als auch von wirtschaftlichen Notwendigkeiten bestimmt. Nimmt man dem Tod seine metaphysische Bedeutung, so werden Art und Zeitpunkt zu Bestandteilen der Lebensplanung, wie es bei den Geburten längst der Fall ist. Um diese Entwicklung zu verhindern, sind die Kirchen bereit, die stillschweigende Entmündigung in den Pflegeeinrichtungen weiterhin zu tolerieren. Unzureichend ist aber auch die Behauptung der Sterbehilfe-Befürworter, wonach es nur um den Willen des Einzelnen ginge. Durch die Hintertür der Zurechnungsfähigkeit wirkt der gesellschaftliche Konsens tragend mit.

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