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Genosse aus der Kalkgrube

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Genosse aus der Kalkgrube

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Es mag Zufall sein, daß die Matinee im Deutschen Theater zur selben Stunde begann, da sich – mindestens – zwei Demonstrationszüge zum Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde bewegten, um wie jedes Jahr am zweiten Januarwochenende der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu gedenken; neuerdings auch noch des Todestags Uljanows, der sich Lenin nannte, und bei soviel L-Versessenheit scheint es nur noch eine Frage der Zeit, wann auf den Transparenten die ersten Forderungen nach Freilassung des Nationalbolschewisten Eduard Limonow zu lesen stehen. Der 15. Januar galt Heiner Müller als das folgenreichste Datum für die Geschichte des Jahrhunderts, lag doch in dem Auftragsmord der sozialdemokratischen Führung das Ende der Weimarer Republik von allem Anfang an beschlossen. Rosa Luxemburg, Gespenst und Ikone, geht im Werk Heiner Müllers in verschiedenerlei Gestalt um, als Ulrike Meinhoff oder Inge Müller, die Frau in dreizehn Jahren neben Heiner Müller. Dem Jäger Runge tritt sie im Kessel von Stalingrad in der Maske Kriemhilds entgegen. Und auf der Bühne des Deutschen Theaters hatte sie in Einar Schleefs letzter Inszenierung Harnisch und Schwert der Jeanne d’Arc und Gestalt der Schauspielerin Jutta Hoffmann angenommen. Doch solchen Bezügen weicht die Matinee „ICH WER IST DAS IM REGEN AUS VOGELKOT IM KALKFELL“ aus, für die Frank Hörnigk, Herausgeber der Werkausgabe bei Suhrkamp, einige bekannte und einige unveröffentlichte Texte zusammengestellt hat, und neue Bezüge stellen sich kaum her. Als Heiner Müller vor acht Jahren starb, da geschah etwas in der deutschen Theater- und Literaturgeschichte Unerhörtes. Acht Tage lang lasen Kollegen und Freunde, Schauspieler und Nichtschauspieler Texte des Dichters im Berliner Ensemble; Kollegen und Freunde, Schulklassen, Berliner und Nichtberliner, kamen und blieben, hörten und schwiegen oder sprachen leise miteinander, gingen weg und kamen wieder. Bis zu jenen acht Tagen war ein solcher Umgang mit seinen Dichtern zwar von dem Volk der Franzosen oder dem der Russen bekannt, nicht aber von dem der Deutschen. Nicht, daß bei Müllers Tod der Vorhang des Tempels von oben an bis unten aus zerrissen wäre. Der Umgang rührte vielmehr von der Bestürzung her darüber, daß da wer hatte gehen müssen, dessen Texte Beunruhigung und Sicherheit zugleich gaben, der in einem Gesprächssatz oder Blankvers umfassender und genauer herbeizurufen wußte, was Politiker in Dutzenden von Interviews und postdramatische Theaterbetexter auf Dutzenden von Seiten nicht auf den Punkt zu bringen vermögen. Und das war weit mehr als nur ein langer Abschied vom Stalingrader Kessel, von DDR und alter Bundesrepublik, auf welchen eine Kulturschickeria Müllers Texte schon immer reduzieren wollte und heute um so flinker reduzieren will, da längst geschieht, was ihr als apokalyptisches Geraune galt und gilt: „wie schamlos die Lüge vom POSTHISTOIRE vor der barbarischen Wirklichkeit unserer Vorgeschichte. „Wenn zwischen den Schaltern der Weltbank die Panther spazieren“, wenn das Weltgeschehen einer Dichtung nur dumm hinterherlahmt, der sogar unsere selbstmörderische Ignoranz gegen die pünktlich eintretenden „Katastrophen (…), an denen die Menschheit arbeitet“, eingeschrieben ist, dann bleibt Schauspielern in der Tat wenig Raum zu Interpretation. Also richten sie sich im Transit ein, und ihr Sonntagvormittag gerät zur Gedenkstunde – einer würdigen wohlgemerkt. Vielleicht hätte eine Anekdote Müllers über die einzige Art von Patriotismus, mit der er etwas anfangen könne, die er in einem der vorab eingespielten Gespräche mit Alexander Kluge erzählt und die hier nicht verraten sei, eine Richtung weisen können? Doch anstatt sich mit, nach und gegen Müller an Deutschland und seinen „Schwellenzeiten“ abzuarbeiten, suchen Barbara Schnitzler, Sven Lehmann und Dieter Mann bei ihrem Dichter Deckung, als hätten sie in ihm einen gefunden, auf den sie bauen könnten. Es ist nicht leicht, vor Heiner Müller als dem besten Sprecher seiner eigenen Texte zu bestehen, insbesondere, wenn man sein auf Leinwand projiziertes Standfoto die ganze Veranstaltung über im Rücken hat. Ein einziger pädagogischer Blick ins Publikum, eine einzige prätentiöse Pause, eine einzige abwehrende Geste oder das Vorzeigen eines Manuskriptblatts lassen ihre Wirkung verpuffen. Nicht einmal das geschauspielerte Nichtschauspielen ist den Schauspielern gestattet. In den Momenten, da die drei zu einem protokollierenden Lesen fanden, wie es Müller mit der „SELBSTKRITIK“ vorgesprochen hat, wurden seine Texte wieder als Terrorwarnungen und Terrordrohungen gleichermaßen kenntlich, gleichgültig auch gegen den Autor, der sie geschrieben hat. Wie hört sich das eigentlich an, die Schädeldecke mit dem Gewehrkolben einzuschlagen? Im Jahr 1990 zitiert der Aufklärer Heiner Müller einen Satz Herders über das Ende Roms: „Dann war da nur noch das dunkle Getümmel ziehender Barbaren.“ Und wenn nun das Haus Europa wieder nur der Stalingrader Kessel ist, den wir Insassen gegen die Barbaren abzudichten suchen? Wo kein Hineinkommen ist, da ist kein Entkommen. Und Geschichte wird verwartet. „BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN“. Solange wir glauben, daß uns Heiner Müllers Texte helfen können, so lange müssen wir von ihnen wegbleiben.

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