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Gefallen 1943 an der Wolga

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Mit seinem neuen Roman, dem achten seit 1974, veröffentlicht zum 70. Geburtstag des Autors am 20. August, greift der in Hamburg lebende Arno Surminski ein Thema der Jahre 1939/45 auf, das trotz der Fülle literarischer Verarbeitungen von Krieg und Nachkriegszeit bisher kaum erwähnt wurde: Das Schicksal von Kindern, die ihre Väter niemals hatten kennenlernen dürfen, weil sie noch vor der Geburt oder kurz danach gefallen waren. Der Vater, um den es hier geht, hieß Robert Rosen, wurde als Bauernsohn am 6. Dezember 1919 im ostpreußischen Dorf Podwangen geboren, heiratete während eines Fronturlaubs am 9. Mai 1942 die Nachbarstochter Erika und wurde am 31. Januar 1943, einem Sonntag, an dem seine Tochter Rebeka entbunden wurde, in der Nähe Stalingrads von einer Granate getroffen. Das alles, was 1941/43 in Podwangen und an der Ostfront vorgefallen ist, möchte jene Tochter Rebeka Lange, Bankangestellte in Bremen, die am Tag ihres sechzigsten Geburtstags in Rente geht und zum Abschied mit ihren Kollegen eine Flasche „Trakehnerblut“ austrinkt, bis in jede Einzelheit wissen. Während des Ruhestands, der vor ihr liegt, möchte sie den Spuren ihres gefallenen Vaters nachgehen, sie hat sein Kriegstagebuch und Feldpostbriefe von der um 1960 verstorbenen Großmutter geerbt, Aufzeichnungen sind ihr von anderer Seite zugeschickt worden. Kollege Wegener, der in der Bank Archiv und Bibliothek verwaltet, will sie mit dokumentarischem Material versorgen. Die Suche nach dem verlorenen Vater, die sich über ein ganzes Jahr bis zum 61. Geburtstag 2004 erstreckt, ergibt die Rahmenhandlung des Romans, was durch den besonderen Schrifttyp hervorgehoben wird. Eingebettet in diese Bremer Rahmenhandlung sind die Kriegsjahre 1941/43 in Rußland, in Ostpreußen, in Hamburg und Münster, woher Robert Rosens Kriegskameraden Heinz Godewind und Walter Pusch stammen, die gescheiterte Flucht der Restfamilie im Winter 1945 aus Ostpreußen und die Vertreibung allein mit der Großmutter 1946. Ein „Wagnis“ sei es, so erklärt der Autor einleitend, dieses Buch „einen Roman“ zu nennen, wegen der „zahlreichen dokumentarischen Passagen“, die freilich den Text oft überwuchern und dadurch den fortlaufenden Erzählfluß unterbrechen, den der Leser liebt. Diese Zitate aus zeitgenössischen und historischen Quellen, die den Text deuten sollen, sind teils authentisch: Bibelstellen, Sätze aus Wolfgang Borcherts Erzählungen, Wehrmachtsberichte, Führerverordnungen oder Originalbriefe wie der eines Amtsrichters aus Wehlau vom 20. Juni 1941. Oder aber sie sind fiktiv wie die fünf Bände der Podwanger Schulchronik 1806 bis 1950, deren letzten der pensionierte Lehrer Bernhard Kossak führt, ehe er alle im Garten vergräbt, oder das „Jagebuch des Westfälingers“, der 1812 Napoleons Rußlandfeldzug mitgemacht und ähnliches erlebt hat wie die deutschen Landser nach dem 22. Juni 1941. Als Vorlage diente dem Autor hier das „Kriegstagebuch des Heinrich Wesemann, 1808-1814“, das, von den Urenkeln aufgefunden, in Köln 1971 unter dem Titel „Kanonier des Kaisers“ erschienen ist, für die Kriegsjahre 1941/42 benutzte er die Tagebücher zweier deutscher Soldaten. Von besonderer Bedeutung freilich ist der demonstrativ vor den Romantext gesetzte Ausspruch Kurt Tucholskys „Soldaten sind Mörder“, der durch die Romanhandlung widerlegt werden soll. Obwohl der Leser weiß, wie das Kriegsgeschehen endet, nämlich mit der totalen Niederlage Deutschlands 1945, und obwohl er ahnt, daß den drei Soldaten nur noch der Tod bevorsteht, versteht es Arno Surminski als erfahrener Schreiber, den Ablauf der Handlung außerordentlich spannend zu gestalten. Das gelingt ihm besonders durch die Kontraste, die er setzt: zwischen dem auch in Kriegstagen noch idyllisch anmutenden Ostpreußen und dem blutigen Gemetzel an der Front! Dabei gehörten die drei Soldaten, die mit ihrer Kompanie aus Metz im besetzten Frankreich in den „Bereitstellungsraum“ Ostpreußen verlegt wurden und nun eine Notgemeinschaft auf Leben und Tod bildeten, nicht einmal zur „kämpfenden Truppe“, sondern lediglich zur Nachhut. Am 20. Juni 1941, zwei Tage vor dem Angriff der drei Millionen Soldaten nach dem Fall „Barbarossa“, bekam Robert Rosen 36 Stunden Urlaub nach Podwangen, das er, nachts durch die Wälder laufend, erreichte. Beschrieben wird dieser unerwartete Besuch aus der Sicht seiner noch ungeborenen Tochter: „Vor der Haustür setzt er mich ab. Vorsichtig drückt er die Klinke herunter, um nicht zu stören, denn sie schlafen noch. Er legt die Finger auf die Lippen und bedeutet mir zu schweigen, Dann tritt er ein. Mich läßt er draußen vor der Tür. Ich warte und warte, aber mein Vater kommt nicht wieder.“ Kriegskamerad Walter Pusch, der 1936 in Münster einen Kolonialwarenladen übernommen hatte, den seine Frau Ilse versorgte, bevor er 1943 durch einen Bombenangriff zerstört wurde, war am empfänglichsten für die NS-Ideologie, wie man seinen Feldpostbriefen entnehmen kann. So schrieb er 1941: „Viele Gefangene werden ja nicht gemacht, das frühere Litauen ist stark verjudet, da gibt es kein Pardon“. Er wurde am 11. März 1944 verwundet und starb zwei Tage später. Weniger anfällig dagegen war Unteroffizier Heinz Godewind, im Zivilberuf Barkassenführer im Hamburger Hafen, Junggeselle. Seine ironischen Bemerkungen über den Kriegsverlauf grenzten an „Wehrkraftzersetzung“. Am 26. November 1941 teilten ihm die Behörden mit, wegen der kriegsbedingten Wohnungsnot sei seine Wohnung beschlagnahmt und eine ausgebombte Familie dort untergebracht worden. Während eines Urlaubs 1943 geriet er in den Hamburger Feuersturm und blieb verschollen. Der Ostpreuße Robert Rosen, der einen russischen Kommissar laufen ließ, den er erschießen sollte, steht dem Autor sicher am nächsten. Er zeigte Sympathie für die geschundene Zivilbevölkerung, seine Feldpostbriefe schwelgten in Landschaftsschilderungen, am 6. Juni 1941 berichtete er im Tagebuch von seinem Entsetzen über die Judenmorde von Tarnopol: „Ich halte es nicht mehr aus und laufe fort, unterwegs kommen mir die Tränen.“ Am 24. April 1942 fuhr Robert Rosen auf Heimaturlaub nach Podwangen, aber die Hochzeitsfeier, an der auch Schwester Ingeborg aus Königsberg teilnahm, war überschattet durch den Auftritt einer Kriegerwitwe, die ihren Schmerz hinausschrie. Vor der Rückfahrt sprach Robert Rosen mit den russischen Gefangenen im Dorf, die sich nach dem Kriegsverlauf erkundigten: „Wie nahe man sich kommt, wenn man miteinander spricht. Plötzlich waren sie keine Feinde mehr.“ Die Todesnachricht kam im Jahr darauf, im März 1943, da war das Kind schon geboren und getauft. Der Standesbeamte hatte den jüdischen Vornamen „Rebecca“ verweigert und dafür eine „germanische“ Entsprechung gefunden. Sechzig Jahre danach sitzt diese Rebeka, die noch mit Ilse Pusch in Münster korrespondiert hat, bevor diese im Alter von 92 Jahren starb, in ihrer Bremer Wohnung, um die Begegnung mit ihrem blutjung gefallenen Vater aufzuschreiben. Sie ist aufgewühlt und mitteilungsbedürftig, aber ihr Sohn Ralf, der, 22 Jahre alt, als Bundeswehrsoldat im Kosovo stationiert ist, zeigt wenig Interesse am Schicksal seines ostpreußischen Großvaters. Allen Lesern, die diesen Krieg nicht miterlebt haben, dürften diese zwölf Jahre 1933 bis 1945 unverständlich vorkommen. Kopfschüttelnd werden sie in diesem Roman den authentischen Brief eines Leutnants vom 22. Juni 1941 an seine Frau in Coburg lesen: „Unter uns herrscht große Zuversicht. Der Führer, der sich bisher nie geirrt hat, wird auch diesmal die richtige Entscheidung treffen. Bei Sonnenaufgang verscheuchte der Kanonendonner alle Zweifel. Es begann der Kampf um Sein oder Nichtsein.“ Arno Surminski: Vaterland ohne Väter. Roman. Ullstein Verlag, München 2004, 462 Seiten, gebunden, 22 Euro Foto: Getreidefeld in Ostpreußen 1995: „Ich warte und warte, aber mein Vater kommt nicht wieder“

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