Das Datum des 13./14. Februar ist in Dresden durch die anglo-amerikanischen Bombenangriffe besetzt – sollte man meinen. Das bedeutet, daß die Trauer um die Toten der Angriffe ihm den Inhalt gibt. Sogar die SED hielt sich daran. Erst in diesem Jahr war es anders. In den Mittelpunkt rückte die Aufführung von Peter Weiss‘ Theaterstück „Die Ermittlung“, ein „Oratorium in elf Gesängen“ im Dresdner Staatstheater, die zielsicher auf den 13. Februar gelegt wurde. Es handelt sich um ein „Konzentrat“ (Weiss) des Auschwitz-Prozesses, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattgefunden hatte. Die „Gesänge“ tragen Titel wie: „Gesang von der Rampe“, „Gesang vom Lager“, „Gesang vom Zyklon B“, „Gesang vom Feuerofen“ usw. Darin wurden Aussagen von Opfern, Zeugen und Angeklagten montiert. Das Stück erlebte am 19. Oktober 1965 eine Ring-Uraufführung an 15 Orten in beiden deutschen Staaten. Mit der jetzigen Inszenierung in Dresden ist eines in Erfüllung gegangen: Den Bombenopfern wurde – um im Jargon des Kultur- und Medienbetriebs zu bleiben, dem dieses Projekt entsprungen ist – die Show gestohlen. Ein besonderes Gewicht erhielt Weiss‘ Stück durch eine Voraufführung im Rahmen eines Gedenkkonzerts am 8. Februar in der Kreuzkirche. Zum Text gab es Glockengeläut, A-capella-Chöre, Motetten und einen Bachchoral. Warum das alles? Auf der Internetseite des Theaters wird behauptet: „Die ‚Ermittlung‘ von Peter Weiss ist ein Versuch, ein einzigartiger.“ Das ist sie, auf ihre Weise. „Die Ermittlung“ ist effektvolles Agitprop-Theater und hatte als solches eine Berechtigung. Es wies die saturierte westdeutsche Gesellschaft auf eine Leerstelle in ihrer Selbstwahrnehmung hin. NS-Opfer waren an der allgemeinen Sattheit verrückt geworden, weil niemand ihre Geschichte hören wollte – nicht nur in Westdeutschland. Jean Amery, Primo Levy, der Historiker Joseph Wulf nahmen sich das Leben. Weil das Stück von Peter Weiss sich als Propagandawaffe im Klassenkampf eignete, wurde es auch in der DDR gefeiert. Der operative Zweck des Textes hat sich erfüllt und erschöpft. Das Stück ist historisch geworden, sein literarischer Wert ist gering. Der Germanist Emil Staiger konstatierte damals schon, Weiss habe „die ungeheure Macht des Scheußlichen auf das heutige Publikum einkalkuliert und sich natürlich nicht verrechnet“. Warum eine Dresdner Aufführung am 13. Februar? Auf der Internetseite des Staatstheaters heißt es: „Es ist weder Konfrontation noch Identifikation, wenn am Gedenktag an die Zerstörung der Stadt die Marter von Auschwitz in den Blick genommen wird.“ Was aber dann? Dresden ist – neben Hamburg – das Symbol für deutsches Leiden im Bombenkrieg, dessen man sich in letzter Zeit verstärkt erinnert. Nur vor diesem Hintergrund ergeben Ort und Zeitpunkt der Aufführung einen Sinn! Warum aber Dresden und nicht Hamburg? Weil es für Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust (CDU) keine Schwierigkeit bedeutet, die Toten seiner Stadt in die zweite Reihe zu verweisen, wie es sich im schönen neuen Deutschland gehört. In der sächsischen Hauptstadt ist das anders, noch. Als die englische Königin 1992 zum Besuch anreiste, wurde sie hier mit eisigem Schweigen empfangen. Kaum einer winkte, es flogen Eier. In dieses Reich der Finsternis mußte das Licht des westdeutschen Geschichtsbewußtseins gebracht werden. Im bigotten Tonfall der Frankfurter Rundschau (FR), den man pur genießen muß, klingt das so: „Und doch schien es, wenigstens von außen gesehen, lange Zeit, als sei Dresden, als seien die tonangebenden Bewohner der Stadt im wesentlichen mit der Trauer um ihre ‚eigenen‘ Verluste beschäftigt. Als sei die Zerstörung wie ein vom Himmel verhängtes ungerechtes Schicksal voraussetzungslos über die alte Residenzstadt und ihre Bewohner hereingebrochen. Ein Verdacht, über den sich, stellvertretend für das gesamte Gemeinwesen, jetzt Dresdner Künstler erhaben zeigten.“ Die Erhabenheit, von der die FR redet, teilt sich nur aus der bundesdeutschen Froschperspektive mit. Verantwortlich für das Dresdner Theater ist Holk Freytag, ein Provinzfrosch aus einem westdeutschen Theatertümpel, der sich heute – der Wiedervereinigung sei Dank – „Intendant des Staatsschauspiels Dresden“ nennen darf. Als Künstler und Bürger hat er jene typische, subventionierte Courage an den Tag gelegt, die nicht einmal den Anflug eines Ernstfalles aushalten würde. Effekthascherisch wie das Thema war der Ort der Voraufführung: ein protestantisches Gotteshaus, das dank seines Knabenchores weltberühmt ist. Der politisierende Linksprotestantismus, der die „Bekennende Kirche“ zu seiner Wurzel erklärt, und die Kulturschickeria der Bonner Republik, beide etwas angegraut, erneuern ihr Bündnis und bekunden, daß sie ihre Herrschaft auf die Ex-DDR ausdehnen wollen. Ihr Bündnis geht auf die frühen sechziger Jahre zurück. Etappen ihrer sukzessiven Machtergreifung waren Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“, die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche zur Oder-Neiße-Linie 1965 und eben auch das Peter-Weiss-Stück. In den siebziger Jahren traf man sich in der Begeisterung für kommunistische Experimente in der Dritten Welt und später in der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung. Jetzt müssen die Perpetuierung deutscher Kollektivschuld und Bußübungen die spirituelle und intellektuelle Leere kompensieren. „Die Musik und ihre Texte stehen nicht in unmittelbar-kommentierendem Verhältnis zur ‚Ermittlung‘ von Peter Weiss, eher scheint ‚Umhüllung‘ die geeignete Metapher zu sein“, heißt es in dem von Holk Freytag unterzeichneten, unsäglich verschwiemelten Text. Er assoziiert religiösen Weihrauch. Auch das ist typisch. Bei den inflationären Auschwitz-Bezügen geht es ja längst nicht mehr nur um „Erinnerung“. Für Claude Lanzmann, Regisseur von „Shoa“, gehört Auschwitz gerade nicht in die „Ordnung der Erinnerung“. Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ kritisierend, meinte Lanzmann, der Holocaust sei „vor allem anderen dadurch einzigartig, daß er einen Feuerring um sich selbst errichtet … Fiktion ist eine Überschreitung. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es Dinge gibt, die man nicht darstellen kann und soll.“ Solche Formulierungen gehören inzwischen zum Standardrepertoire deutscher Geschichtspolitik. De facto wird hier ein Bild-, letztlich auch ein Denkverbot verlangt. Das bedeutet aber nicht, daß man die Beschäftigung mit dem Thema beenden will, im Gegenteil. Lanzmann will die „Zeit rückgängig machen“, was – in den Worten des deutschamerikanischen Literaturprofessors Geoffrey Hartmann, Mitbegründer des Fortunoff Videoarchiv for Holocaust Testimonies – „eher eine Wiederbelebung als eine Darstellung der Geschehnisse“ bedeutet. Dieser Anspruch geht über die Empathie, die jeder Künstler anstrebt, hinaus. Er zielt auf eine „Unio mystica“, auf eine totale Identifikation im Gefühl der Schuld. Dazu treten Mandarine auf den Plan, eine Mischung aus Geschichtspolitikern, Pädagogen, Künstlern und Priestern. Sie verkünden das „geschaute“ düstere Sacrum, das hinter einem „Feuerring“ verborgen und der Gemeinde deshalb unzugänglich bleibt. Gelegentlich dürfen die Schäfchen durch Austeilung des Sakraments an ihm teilhaben, auf daß sie wohlkonditioniert zum Werk des wachen Tags schreiten. Dresdens Staatsintendant Freytag hat es in diesem Geschäft gerade zum Ministranten gebracht. Der Wahnsinn von Dresden hat Methode. So errichteten Berliner Schulkinder vor laufender Kamera eine „Mauer der Erinnerung“, auf deren Steinen die Namen ermordeter Juden verzeichnet waren. Anschließend mußten sie ihrer Trauer tänzerischen Ausdruck verleihen. Bei einer protestantischer Christmette am Heiligen Abend wurde auf dem Altar ein Chanukka-Leuchter plaziert und entzündet! Das Treiben zweit- und drittklassiger Ausstellungsmacher, Autoren, Geschichtsschreiber, Regisseure aufzuzählen, die auf billige Weise ein Stück Transzendenz erhaschen wollen, würde Seiten füllen. Aus phänomenologischer Perspektive ist die Sakralisierung neuerer Geschichte, die sich gerade vollzieht, ein faszinierendes Schauspiel. Kulturell, aber auch gesellschaftspolitisch ist sie eine Katastrophe. In dem Maße, wie sie alle Bereiche durchdringt, nehmen die gesellschaftlichen Kohäsionskräfte ab und verroht der Umgang namentlich unter Jugendlichen. Es bilden sich Eigenschaften heraus, die man Diktaturen vorbehalten glaubte: Furcht vor Denunziation und Inquisition, das Auseinanderklaffen von privater und öffentlicher Sprache. Ein allgemeiner Egoismus ist die Kehrseite von Zynismus und Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten. Wie könnte das auch anders sein, wo die freie Rede nicht möglich ist? Wann ist das kulturelle und geistige Leben jemals so arm und einseitig gewesen? Was kann man von diesem Land überhaupt noch erwarten? Dresden mahnt – auf neue Weise! Foto: Bühnenstück „Die Ermittlung“ in Dresden: Aus der bundesdeutschen Froschperspektive