Hört ihn noch wer, den stummen Schrei der abgetriebenen Kinder? Seit der Änderung des Paragraph 218 im Jahr 1974 wurden nach Schätzungen acht Millionen ungeborene Kinder im Mutterleib vernichtet. Wie blanker Hohn klingen die Worte des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil von 1995, Hauptziel der Neuregelung der de-facto-Fristenregelung sei eine Verbesserung des Lebensschutzes. Hat die Zahl der gemeldeten Abtreibungen bis heute abgenommen? In absoluten Zahlen läßt sich ein geringer Rückgang messen; die relative Abbruchhäufigkeit habe jedoch zugenommen, beklagen Lebensrechtler. Jahr für Jahr werden nach offiziellen Angaben rund 130.000 Schwangerschaften abgetrieben. Die nicht erfaßte Dunkelziffer, schätzen Experten, dürfte noch einmal so hoch liegen. Fakt ist: In Deutschland endet jede vierte Schwangerschaft auf dem OP-Tisch eines Abtreibungsarztes. Ist nun die Politik gerufen, diesem Mißstand ein Ende zu bereiten? Das Karlsruher Gericht gab dem Gesetzgeber die Mahnung auf den Weg, von Zeit zu Zeit die Wirkung seiner Regelungen zum Lebensschutz konkret zu prüfen. Doch Deutschlands Parteien verschließen die Augen vor dem Skandal. Abgesehen von vereinzelten, halb ernst gemeinten CSU-Vorstößen herrscht eine große Koalition des Schweigens. Um so bemerkenswerter waren die jüngsten Äußerungen Horst Köhlers (CDU), des Präsidentschaftskandidaten des bürgerlichen Lagers. Köhler regte eine neue Debatte um die Abtreibungsgesetze an und präzisierte gleich eine empfindliche Schwachstelle im moralischen Panzer der Paragraph-218-Front: „Insbesondere die hohe Zahl an Spätabtreibungen halte ich für äußerst bedenklich.“ Lebensrechtler reagierten positiv überrascht auf das unerwartete Bekenntnis Köhlers. Vergangene Woche nun offenbarte Gesine Schwan, die linke Kandidatin für das höchste deutsche Staatsamt, ihre Position in der Streitfrage der massenhaften Abtreibungen. Nach den Worten von Schwan solle „die Bundespräsidentin“ Initiativen unterstützen, die Leben „wirklich retten“, erklärte sie, auf die rund acht Millionen Schwangerschaftsabbrüche in den letzten dreißig Jahren angesprochen. Abtreibungen sollten vermieden werden, eine „Pflicht zur Nachbesserung“ des Gesetzes könne sie aber nicht erkennen. „Es kann nicht darum gehen, die Gewissensentscheidung erneut mit Strafe zu bedrohen“, so Schwan im Gespräch mit dem Journalisten Markus Reder von der katholischen Zeitung Die Tagespost. In der heiklen Frage der Abtreibungen müsse zwischen „verschiedenen Ansprüchen abgewogen werden“, sagte die laut Eigenauskunft „praktizierende Katholikin“. „Ich sehe sehr wohl, daß der Gesetzgeber mit der Regelung auch die Menschenwürde geachtet wissen wollte.“ Füllworte sind verräterisch: „auch“ die Menschenwürde gelte es zu achten, meint Schwan. Ihr seifiger Nachsatz kommt noch schlimmer. „Wir sollten uns derzeit konzentrieren, die Menschenwürde auch wieder für jeden erfahrbar zu machen.“ Wen meint sie da? Die Millionen Kinder, die nie das Licht der Welt erblicken? Wenn schon die ethische Dimension der hunderttausendfachen Abtreibung Deutschlands Politikern keinen Schauder versetzt, die demographischen Folgen werden das Land nicht mehr loslassen. Zukünftige Historiker dürfen einmal rätseln, wie leichtfertig ein aussterbendes Volk verfuhr, ein Viertel seines Nachwuchses vor der Geburt abzutöten. Sie werden sich fragen, welche Motive einen Staat umtrieben, der seinen demographischen Selbstmord jährlich noch mit mehr als 40 Millionen Euro subventionierte. Äußerungen wie die von Schwan mögen einen Anhaltspunkt für den Stand der ethischen Verwirrung geben.