Manche Menschen gleichen Katzen. Sie haben sieben Leben. Das bestimmt sie zu Kriegshelden. Nicht wenige von ihnen tummeln sich bis 1945 in der deutschen Geschichte. Eine der unauffälligsten und doch faszinierendsten Gestalten darunter ist Oskar Ritter von Niedermayer. Ein Mann, der im Ersten Weltkrieg kaum einen Schuß abgegeben hat, der kein feindliches Flugzeug vom Himmel holte wie der „rote Baron“ Richthofen, keine Gräben blutig mit Handgranaten und Pistole „räumte“ wie der Stoßtruppführer Ernst Jünger und keinen Frachter auf den Meeresgrund schickte wie der „Seeteufel“ Graf Luckner. Niedermayers Kriegsruhm gründet nicht auf einer Waffentat, sondern auf einem Gewaltmarsch, der ihn 1915/16 „Unter der Glutsonne Irans“ bis nach Kabul führte. Als Niedermayer unter diesem Titel 1925 seine „Kriegserlebnisse“ in Persien und Afghanistan veröffentlichte, wies der Rezensent der Geographischen Zeitschrift aber jeden Verdacht zurück, es verberge sich dahinter nur ein militärisch drapierter Abenteuerurlaub. Vielmehr stellte er Niedermayers Hindukusch-Expedition „voll staunender Bewunderung den größten aktiven Heldentaten des Weltkrieges, dem Fliegerkampf und den Kreuzerfahrten durch die Meere, ebenbürtig zur Seite“. Zentralasien war eine Domäne deutscher Forscher Man hätte das antiquarisch seltene Buch lesen müssen, um sich davon zu überzeugen, wie berechtigt dieses Urteil war. Da es jedoch der Vergessenheit anheimfiel und mit ihm sein Verfasser, mußten wir fast achtzig Jahre warten, bevor der Berliner Diplomat Hans-Ulrich Seidt diese schillernde Figur wieder aus dem Dunkel der Geschichte holte. Zur Aktualität seiner Niedermayer-Biographie bedarf es zu einer Zeit, in der ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister die Parole ausgibt, Deutschlands Grenze werde am Hindukusch gesichert, keines weiteren Wortes. Aber diese glückliche Punktlandung der Publikation ist eher ein Zufall. Von historischer Konsequenz zeugt hingegen, daß Seidt sich dem Thema bereits um 1995 zuwandte. Nach dem „Zerfall der Sowjetunion und der Rückkehr Zentralasiens und des Kaukasus in die internationale Politik“, so markiert er seine Ausgangsposition, habe sich das Werk Niedermayers, das „die Dynamik dieses Raumes wissenschaftlich zu deuten und politisch zu steuern versuchte“, geradezu aufgedrängt. Man darf diese Aussage pointieren: Weil in Deutschland nach der Auflösung der Machtblöcke des Kalten Krieges wieder von „Geopolitik“ gesprochen wird, gewinnt eine bis dahin weitgehend tabuisierte Tradition politischen Denkens an Aufmerksamkeit. Seidts Darstellung der Lehr- und Wanderjahre des 1885 in Freising geborenen bayerischen Offiziers und Erlanger Studenten macht bereits mit kräftigen Strichen deutlich, mit welchen Tiefen man rechnen muß, um diese Tradition zu erschließen. Zentralasien war eine Domäne deutscher Geographen seit Alexander von Humboldts Zeiten, die dann der China-Forscher Ferdinand von Richthofen und seine zahlreichen Schüler behaupteten. Diese wissenschaftliche Tradition vermittelte dem jungen Niedermayer selbst eine so provinziell wirkende Universität wie Erlangen. Ebenso profitierte er dort vom Weltrang der deutschen Orientalistik, die sich bei seinem Lehrer Georg Jacob von der Philologie zur Kulturwissenschaft, zur „Auslandskunde“ erweiterte. Seidt zeigt mit dem Hinweis auf einen Forschungsschwerpunkt Jacobs, die Geschichte des Geheimordens der Bektaschi und ihres politischen Einflusses im Osmanischen Reich, wie kurz der Weg war, der vom Elfenbeinturm der Wissenschaft direkt in die Wetterzonen internationaler Politik führte. „Anwendungsorientierte“ Forschung, wie man heute sagt, war auch das Ziel von Niedermayers erster Persienexpedition, die ihn 1913/14 zu landeskundlich-geologischen wie zu kartographischen und damit letztlich militärisch verwertbaren Studien in den Nordosten des unter Russen und Engländern aufgeteilten Reiches brachte. Niedermayer erwarb sich damit den Ruf eines Nahostexperten. Nichts lag näher, als seine Erfahrungen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in diesem Raum zu nutzen. Er war dazu ausersehen, dem ganz „großen Wurf“ zum Erfolg zu verhelfen, England in Indien zu schlagen. Erdacht hatte den Plan, von Afghanistan aus nach Osten vorzustoßen, einen Unabhängigkeitskrieg in Indien auszulösen und so das britische Weltreich zu erschüttern, der jüdische Bankierssohn und Diplomat Max von Oppenheim, der als „bedeutendster Orientkenner seiner Zeit“ auch gute Chancen sah, die arabischen Massen zum „Heiligen Krieg“ gegen ihre westeuropäischen Kolonialherren aufzustacheln, der auch schon Vorsorge getroffen hatte, Selbstmordattentäter unter indischen Studenten auszubilden und der deshalb stolz meldete: „Mehrere sind Chemiker, ein Beruf, den sie in Hinblick auf umstürzlerische Zwecke ergriffen haben.“ So kühn wie dies alles gedacht war, so realistisch sich von Oppenheims geostrategische Planspiele angesichts der von ihm früh wahrgenommenen „wachsenden Macht der USA“ und der Notwendigkeit, den europäischen „Großraum“ dagegen zu organisieren, auch ausnehmen mögen: Ihre Ausführung scheiterte kläglich. Niedermayers wagemutige kleine Truppe kam zwar allen Widrigkeiten zum Trotz nach Monaten glücklich in Kabul an, vermochte den Emir aber nicht zum Kampf gegen die Briten zu bewegen. Wegen der viel zu schwachen deutschen Kräfte mißlang auch der zweite Versuch, Englands Weltstellung in Vorderasien auszuhebeln. 1917/18, nach abenteuerlicher Rückkehr aus Afghanistan, würdig eines Kara ben Nemsi, glaubte Niedermayer mit türkischer Hilfe die russische Bürgerkriegslage ausnutzen und via Baku und Nordpersien noch einmal nach Afghanistan vorstoßen zu können. Treffend spottete Hans von Seeckt, hier habe Ludendorff unter Niedermayers Einfluß asiatische Machtpolitik mit hundert Landsturmmännern entscheiden wollen. An Niedermayers weiterem Lebensweg, anhand seiner Rolle als Schlüsselfigur in der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee im Zeichen der Rapallo-Politik, seinen prosowjetischen wehrgeographischen Studien während seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Universität (1933-1940) und noch als Führer einer Turk-Divison wie als soldatischer Kritiker der NS-Besatzungspolitik in Rußland, macht Seidt deutlich, wie sehr die deutsche Mittelmacht in den Konstellationen des Ersten Weltkrieges gefangen blieb. Eindrucksvoll analysiert er, wie auch im zweiten imperialen Krieg die deutsche politische Führung einer kontinentalen Fixierungen anhing, und sich – im Unterschied zu 1914 bis 1918 – mittlerweile fatal erfahrungsresistent in rassenideologischer Überzeugungen verrante. 1941 habe im Irak eine reale Chance bestanden, England entscheidend zu treffen und zum Frieden zu zwingen. Aber alle politisch-militärischen Pläne, an denen wiederum Niedermayer Anteil hatte, seien von „Lebensraum“-Phantasien überlagert worden: „Hitler dachte nicht daran, in die Spuren des großen Staufers zu treten und das deutsche Heer in den Orient zu führen. Seine rassenideologische Verblendung trieb ihn zur Eroberung von ‚Lebensraum‘ in die unendlichen Weiten Rußlands. Nicht das Ende des britischen Weltreichs war sein Ziel, sondern die Eroberung Rußlands, die Unterdrückung der slawischen Völker Europas und die Vernichtung der Juden. Wer also über verpaßte Nahostchancen des Deutschen Reiches im Frühjahr 1941 spekuliert, der verkennt und unterschätzt die eigentlich treibende Kraft der deutschen Politik, nämlich Hitler.“ Seidt schildert Alternativen deutscher Geopolitik Das mag richtig sein, hat Seidt aber nicht davon abgehalten, in seiner biographischen Studie auch von alternativen Kräften, potentiellen Gestaltern deutscher Politik und wichtigen, nicht vom Nationalsozialismus kontaminierten geostrategischen Traditionen zu berichten. Was er mit Niedermayers Lebensschicksal, das 1948, nach drei Jahren Untersuchungshaft in der Lubjanka, in einer Strafanstalt nahe Moskau endete, plastisch ins Gedächtnis zurückholt, sollte man daher in der Diskussion über die wichtigste Zukunftsfrage deutscher Außenpolitik beachten, auf die Seidt die für ihn gültige „Lehre“ aus seiner langjährigen Beschäftigung mit diesem geopolitischen Denker zuspitzt: Kein Rückfall in eine exklusiv kontinentale Großraumpolitik, Bewahrung der „atlantisch-maritimen Dimension“ gesamteuropäischer Politik. Also den Anti-Atlantiker Niedermayer gegen seine eigenen Intentionen lesen und gegen die neue Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking in Stellung bringen? Natürlich weist Seidts 500-Seiten-Opus auch ein paar Schwachpunkte auf. Der Verfasser, der in der Regel jeden Stein umdreht, gestattet sich bei einigen Randfiguren Nachlässigkeiten, prüft nicht nach, ob es einen Nationalökonomen „Berkopf“ oder einen Historiker „Österreich“ wirklich gegeben hat. Andernfalls hätte er schnell entdeckt, daß der eine, ein Fachmann für das sowjetische Industriepotential Sibiriens, Fritz Berkenkopf hieß, der andere, Gerhard Oestreich, sich große Verdienste als Herausgeber der Gesammelten Abhandlungen des Verfassungshistorikers Otto Hintze erwarb. Schade auch, daß Seidt sich das Berliner Umfeld des Professors für Wehrgeographie nicht so genau angeschaut hat. Darum sieht er zwar richtig, daß der nach 1945 als Fachmann für den „Nationalbolschewismus“ bekannt gewordene Otto-Ernst Schüddekopf ein Schüler Niedermayers war, doch die „intime Sachkenntnis“, die Seidt beim Spezialisten für „Linke Leute von Rechts“ rühmt, hat er wohl bei der „Gegnerbeobachtung“ im Sicherheitsdienst der SS erworben. Das wäre so erwähnenswert wie von Niedermayers Beteiligung an der NS-Personalpolitik in der Berliner Fakultät, deren Bedeutung man nur in Seidts Haushofer-Zitat erahnen kann, wonach der frischgebackene Dozent dort „mit Riesenschwung“ im Dienst der NSDAP durchgreife. Ein Mitstreiter auf diesem Feld war der ehemalige Generalstabsoffizier und Clausewitz-Deuter Walther M. Schering, der etwa gleichzeitig mit von Niedermayer seine Berliner Hochschulkarriere begann. Eine Lektüre von dessen bedeutender „Wehrphilosophie“ (1939) hätte ergeben, daß von Niedermayer mit seinem geopolitischen Pragmatismus kein Einzelgänger war – wären hier nicht sogar Einflüsse zu entdecken gewesen? Aber solche kleinen Unkorrektheiten und Versäumnisse fallen im Vergleich mit der Gesamtleistung kaum ins Gewicht. Ebensowenig wie die gelegentliche Schwäche, Niedermayers Biographie als „Aufhänger“ zu benutzen, um etwas weitschweifig etwa konträre Positionen deutscher Rußlandpolitik in der Weimarer Republik darzulegen. Ästheten mögen auch über den Satzspiegel die Nase rümpfen, der dem Text unten auf der Seite zuwenig Luft läßt. Anhänger der alten Rechtschreibung werden sich ärgern, auf die dem Gotha unbekannten Geschlechter der „Geografen“ oder „Paragrafen“ zu treffen. Aber dies ist dem Autor so wenig zuzurechnen wie die bedauerliche Entscheidung des Verlages, nur ein verkürztes Register abzudrucken, das Namensnennungen im umfangreichen Anmerkungsteil unterschlägt. Sei’s drum – bei der fesselnden Lektüre, die bei vielen Lesern wie zu Zeiten ihres jugendlichen Karl-May-Hungers erst im Morgengrauen enden dürfte, stört das kein bißchen! Hans-Ulrich Seidt: Berlin, Kabul, Moskau. Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik. Universitas Verlag, München 2002, gebunden, 510 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro
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