Der Politikwissenschaftler Paul Gottfried leuchtet in die dunklen Ecken von Amerikas politischem Bewußtsein. In „After Liberalism: Mass Democracy in the Managerial State“ (1999) untersuchte er Aufstieg und Konsolidierung zentralisierter Verwaltungsregimes quer über die westliche Welt. Gottfried dokumentiert, was jedem Gebildeten klar sein sollte: Die moderne Massendemokratie zeichnet sich nicht durch Partizipation des Volkes oder einen informierten Konsens aus, sondern durch Massensozialisierung, Apathie des Publikums und die Herrschaft von öffentlichen Administratoren. In „Multiculturalism and the Politics of Guilt“ geht Professor Gottfried noch einen Schritt weiter und analysiert „die Wendung des Verwaltungsstaats … weg von rein materiellen Programmen, wie etwa ausgeweitete Sozialleistungen, hin zur Verhaltenskontrolle“. Das siegreiche Verwaltungsregime hat noch eine weitere Mission übernommen: die revolutionäre Transformation der Gesellschaft. Nach dem Kalten Krieg gab es keine Wende zu mehr Freiheit, noch viel weniger hin zur Rechten. „Tatsächlich hat die Linke einen multikulturellen Kurs eingeschlagen, in Richtung der ‚marxistischen Vulgata‘ der political correctness“ – anders gesagt: kulturellem Marxismus. Gottfried ist einer der wenigen Gelehrten, die bemerkt haben, daß die sozialdemokratische Linke den Kalten Krieg gewonnen hat. Neokonservative brüsteten sich über ein Jahrzehnt mit dem „Tod des Sozialismus“ und dem Triumph des demokratischen Kapitalismus. Der Konservatismus habe die Oberhand gewonnen, hieß es, und die Morgenröte universeller Freiheit stünde bevor. In sorgfältiger Detailarbeit weist Gottfried nach, daß all dies bloß Phantastereien sind. Während der Kommunismus sowjetischer Art gescheitert ist (Castro und Kim Jong Il sind wohl die letzten Anhänger), lebt die westliche Form des demokratischen Sozialismus – die Mischwirtschaft, der Wohlfahrtsstaat, Umverteilungssteuern und veraltungstechnische Regulierung – unbeschadet fort. Unterdessen ist die Linke von einer Obsession mit anderen Formen der Ungleichheit ergriffen worden. Ihren Traum einer universellen klassenlosen Gesellschaft hat sie ausgetauscht gegen den neuen Traum eines Kollektivs ohne kulturelle oder ethnische Unterschiede. Die Linke hat gelernt, daß eine halbprivate Wirtschaft mehr Ressourcen zur Finanzierung ihrer gesellschaftlichen Revolution abwirft als Konfiskation und zentralisierte Planung. Ebenso hat sie gelernt, Konzerne als Verbündete zu gewinnen. Das Ergebnis beschreibt Gottfried als eine Allianz zwischen „dem Verwaltungsstaat und den Kräften der Kapitalakkumulation“. Das ist der Kern von Bill Clintons „New Democracy“, Tony Blairs „New Labour“ oder George W. Bushs „compassionate conservatism“. Letzterer Ausdruck signalisiert die Festlegung auch der GOP auf den Wohlfahrtsstaat, den Multikulturalismus und das „therapeutische Regime“, wie es im amerikanischen Soziologenjargon heißt. Der therapeutische Staat strebt danach, das Bewußtsein und Verhalten der Bürger zu regulieren. Vieles, etwa die vermehrte staatliche „Aufklärung“ durch Medien und Schulen oder zahlreiche „Toleranzprogramme“, deutet darauf hin, daß er Fuß gefaßt hat. Damit hält die multikulturalistische Linke nun entscheidende Schalthebel gesellschaftlicher Institutionen in der Hand. Wie konnte das geschehen? Gottfried liefert eine brillante Analyse auf diese Frage und nennt zwei Gründe für das Desaster: Zum einen die Fähigkeit des Staates, durch Masseneinwanderung einen gesellschaftlichen und demographischen Wandel herbeizuführen, und zum anderen der beständige Rekurs auf tatsächliche oder vermeintliche westliche „Schuld“. Auf Initiative westlicher Eliten, mit ihrer Unterstützung und Subventionierung, fand und findet eine quantitativ wie qualitativ bedeutende Einwanderungsbewegung aus der Dritten Welt statt, die als Instrument einer kulturellen Revolution dient. Antidiskriminierungsgesetze und „affirmative action“ sind die Hebel, mit denen traditionelle Gemeinschaften und Regionen aufgebrochen werden. Durch staatlichen Zwang schüchtert man die Mehrheitsbevölkerung ein, wobei Unterstützung bei angeblichen Diskriminierungsopfern, „Anhängern alternativer Lebensstile“ und alle möglichen „Minderheiten“ geholt wird. Die administrative Klasse besitzt ein instinktives und sicheres Gespür für das alte divide et impera. Als zweite Ursache für den Erfolg der Gesellschaftsveränderer nennt Gottfried die „Politik der Schuld“ und die „Theologie der Viktimisierung“. Damit werden die westlichen Mehrheitsbevölkerungen demoralisiert und enerviert. Gottfried glaubt, die Grundlage des therapeutischen Staats sei im protestantischen Christentum zu finden, speziell im Calvinismus. Es behauptet nicht, daß die PC-Doktrinen irgendwie christlich seien, weit gefehlt. Vielmehr sind sie Produkte einer „deformierten protestantischen Kultur“. Nach Gottfrieds Überzeugung ist die political correctness zum Substitut für das Christentum geworden, „eine verunglückte Suche nach religiöser Erlösung, die Formen religiöser Verehrung am Schrein des Multikulturalismus annimmt“. Weitverbreiteter Bibel-Analphabetismus, theologische Verwirrung und historische Ignoranz „haben die Vergangenheit zu einer tabula rasa gemacht“. Der Weg ist frei für die neue Moral. Political correctness in ihren krassesten Formen trägt klar religiöse Züge: Sünde ist nicht länger die Mißachtung der Gebote Gottes, sondern „Insensitivität“ – also mangelnde Feinfühligkeit – gegenüber deklarierten „Minoritäten“. Erlösung findet, wer beichtet, einer üblen Rasse (der Europäischen) anzugehören, und Buße tut. Die Sühne gegen nicht-westliche Völker nimmt verschiedene Formen an: Entwicklungshilfe, Entschädigungszahlungen, liberale Einwanderungsgesetze, großzügige Asylgesetzgebung, „affirmative action“, Quoten, Selbsterniedrigung und allgemeine Bekenntnisse zur eigenen Sündhaftigkeit. Als Folge verleugnen heute viele Europäer ihr eigenes Volk und ihre eigenen kulturellen Wurzeln. Sogar eine säkularisierte Version der religiösen Vorstellung vom Ende der Zeit gibt es. Nach Francis Fukuyama bedeutet der Triumph des amerikanischen Modells eines demokratischen Kapitalismus und rassischer Diversität das „Ende der Geschichte“, die „Endform“ menschlicher Gesellschaft. Die neue Religiosität der political correctness, glaubt Gottfried, lindere die allgegenwärtigen gesellschaftlichen Schuldgefühle. Für den religiösen Charakter der PC-Ideologie spricht der Fanatismus ihrer Anhänger, deren Eifer, Abweichler und Gegner zu verfolgen, sowie die hysterischen Reaktionen auf vernünftige Einwände. Die Methode der Dämonisierung des Gegners funktioniert so gut, daß es in vielen westlichen Gesellschaften nur schwachen Widerstand gegen die ethnozidale Politik der Regierungen gibt. Gottfried schließt seine Studie mit einer pessimistischen Bemerkung, wonach die „managerial-therapeutic revolution“ in den USA unter Umständen unumkehrbar sei. „Wo regionale Loyalitäten und Kräfte zusammengebrochen sind und die individuelle Selbstverwirklichung als höchstes Ideal verbleibt, ist es unwahrscheinlich, daß viel Widerstand gegen die Ziele der öffentlichen Verwaltung aufgebracht werden kann.“ Nur auf dem europäischen Kontinent, der Wiege der westlichen Kultur, wo noch relativ festgefügte nationale Kulturen existieren, gibt es ernstzunehmende Opposition. Dagegen lassen die „fließenden Kulturen“, die den anglophonen Westen kennzeichnen, die Gefügigkeit der öffentlichen Meinung und die Servilität der Bevölkerungsmehrheit Gottfried zweifeln, ob „dort überhaupt eine Kernkultur existiert“. Foto: Hunderte illegale Einwanderer warten vor dem Gebäude Chambre des Notaires (Haus Rechtsanwälte) in Paris auf Einlaß (2002): „Einwanderung als Instrument einer kulturellen Revolution“ Paul Edward Gottfried: Multiculturalism and the Politics of Guilt: Toward a Secular Theocracy, University of Missouri Press, 158 Seiten, 29,95 US-Dollar Dr. H. A. Scott Trask ist Historiker und Publizist. Die deutsche Übersetzung erfolgte mit freundlicher Genehmigung der amerikanischen Zeitschrift Chronicles.
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