Anzeige
Anzeige

Rumsfelds flotte Sprüche

Rumsfelds flotte Sprüche

Rumsfelds flotte Sprüche

 

Rumsfelds flotte Sprüche

Anzeige

Der Streit zwischen den USA und Europa über einen möglichen Irak-Krieg hat Differenzen zutage gefördert, die weit über den aktuellen Anlaß hinausreichen, kulturmorphologische Dimensionen aufweisen. Die grob-sarkastischen Reden des US-Kriegsministers Rumsfeld über jene „alten“ europäischen Länder Frankreich und Deutschland, die für Washington ein „Problem“ seien und gegen die man das „junge“ Europa (Polen, Tschechien, Ungarn usw.) in Stellung bringen werde, ließen Franzosen und Deutsche regelrecht aufschreien. Es war wie ein Schock, der lange verdrängte Identitätsgefühle wiederaufweckte. Besonders in Deutschland war das erstaunlich anzusehen. Dort wollen die offiziellen Kreise ja gar kein Volk mehr sein, schon gar nicht ein „altes“. Die in den Schulen gelehrte Erinnerung reicht bestenfalls bis 1945 oder 1933, alle kommen sich ungemein jung vor, schwärmen von ihrer „jungen Demokratie“ und verankern diese nicht etwa in alteuropäischen Traditionen, sondern am „amerikanischen Vorbild“. Hätte man da nicht eher mit frenetischer, zerknirschter Zustimmung zu den Rumsfeld-Attacken rechnen müssen? Doch auch hier, gerade hier, nur Empörung und demonstrativ vorgezeigter Stolz auf das „alte Europa“. Dabei hatte Rumsfeld die Apostrophierung als „alt“ eindeutig negativ gemeint, etwa im Sinne von Spengler und Toynbee, die den Rhythmus der sich ablösenden Lebensalter aus der Biologie auf die Geschichte übertrugen und ebenfalls herablassend oder mitleidig-bedenklich von der „Überalterung“ der europäischen Kultur sprachen und daraus die verwegensten Schlüsse ableiteten. Läßt sich aber sinnvoll in dieser Weise sprechen? Können Kulturen altern wie Individuen oder wie Gesellschaften mit einer auf dem Kopf stehenden Alterspyramide? Bedeutet kulturelles Alter automatisch Verfall und Dekadenz? Wer als erster daran zweifelte, und zwar mit mindestens genauso starkem Sarkasmus wie jetzt Rumsfeld in seiner Suada, war kein geringerer als Francis Bacon, englischer Lordkanzler und berühmter Philosoph der instrumentellen Vernunft am Beginn der europäischen Neuzeit um 1600. Bei ihm drehte sich alles um den „Fortschritt“ in Politik und Wissenschaft, und für das größte Hemmnis dieses Fortschritts hielt er die Ehrfurcht seiner Zeitgenossen vor der Weisheit der Alten. Sicherlich, eiferte Bacon in seinem „Novum Organon“, Alter bedeutet Weisheit, aber die „Alten“, die wir um ihrer angeblichen Weisheit willen verehren, zum Beispiel Platon und Aristoteles, sind – geschichtlich betrachtet – doch gar nicht alt, sondern sie sind jung, sie stehen am Anfang der Geschichte, als noch nichts ordentlich erforscht war und kindlich-kindische Vorstellungen dominierten. Je „älter“ eine Kultur ist, lehrte Bacon, umso jünger ist sie in Wirklichkeit, umso kindischer und vernachlässigbarer. Nicht Platon und Aristoteles, sondern wir, ich, Francis Bacon und meine Zeitgenossen von 1600, sind die wirklich Alten und deshalb die wirklich Weisen in Wissenschaft und Politik. An solcher Perspektive ist immerhin so viel wahr, daß beim geschichtlichen Handeln tatsächlich nicht die Alten, sondern die Jungen unter Rechtfertigungszwang gehören. Auch wenn alte, voll eingeschliffene Handlungspraktiken einmal ihren Biß verlieren, nicht mehr optimal funktionieren, müssen neue Praktiken, die sie ersetzen sollen, immer noch zeigen, daß sie wirklich besser sind. Das Sprichwort „Neue Besen kehren gut“ trifft da nicht, denn die neuen Besen sind immer noch Besen, ein altes Erfolgsmodell. Beileibe nicht alles Neue, Junge, ist schon deshalb besser, weil es neu und jung ist; das hat gerade das alte Europa bis zum Überdruß und äußerst leidvoll erfahren müssen. In der Regel gilt, daß das Bessere solide auf dem Guten aufbaut, daß erfolgreiche Junge auf den Schultern der Alten stehen und etwas lieber erfolgreich fortentwickeln, statt es einfach wegzuräumen; das gilt übrigens für die Wissenschaft fast noch mehr als für die Politik. Was nun gar die feineren Nuancen des kulturellen Lebens betrifft, die Poesie, das, was man Stil nennt, das Dandytum, die Ausdifferenzierung und gegenseitige Durchdringung, so ist dergleichen überhaupt nur in „alten“, von Traditionen und Generationen geprägten Völkern und Gesellschaften möglich. Wie dichtete einst der blutjunge Hugo von Hofmannsthal, ein gymnasiales Apfelbäcken, im Wien der Belle Epoque? „Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern / Noch weghalten von der erschrockenen Seele …“ Die Seele muß vor der Tradition erschrecken, ohne sie abzutun, nur so wird sie kulturell fruchtbar werden. Was zählen dagegen die revolutionären Holzhackereien und Menschenfressereien eines Majakowski oder anderer Litfaßsäulen-Bekleber? Nichts, weniger als nichts. Was aber nun Donald („Duck“) Rumsfeld und seine Pentagonkrieger betrifft, so stehen sie der ewigen Auseinandersetzung zwischen Alt und Jung, Evolution und Revolution, die die Geschichte Europas formte, so fern wie nur möglich. Der amerikanische Kulturkreis folgt nicht der Dialektik von Jung und Alt, sondern der von Fülle und Leere, Begrenzung und Entgrenzung. Die sogenannten „Pilgerväter“ waren keine dezidiert Jungen, die gegen dezidiert Alte protestierten und sich deshalb eines Tages zu neuen Ufern einschifften, es waren eher ältliche Prophetengestalten, denen die vielen Begrenzungen der abendländischen Zivilisation, die Enge und Vollgestelltheit zuwider waren und die sich nun aufmachten, das „weite, offene Land“ zu suchen, das sie zum „Neuen Jerusalem“ verklärten. Sobald es ihnen im neuen Land wiederum zu eng wurde, zogen sie einfach weiter, denn sie hatten ja eine „offene Grenze“, hinter der nur irgendwelche Barbaren und Bosheitsgestalten hausten, die man mit Gottes Segen wegschieben durfte. Heute stehen sie kurz davor, die ganze übrige Welt zur „offenen Grenze“ zu erklären und als solche zu behandeln. Wenn Rumsfeld von den „jungen Europäern“ spricht, den Polen, Ungarn und Tschechen, die er gegen die „alten“ Franzosen und Deutschen ausspielen will, so meint er damit nicht wirklich Junge oder Alte, er denkt vielmehr in den Kategorien der offenen Grenze. In Frankreich und Deutschland ist es den neuen Pilgervätern zu eng und unbequem geworden, zu viele autochthone Nörgeleien und Bedenkenträgereien, zu viele Erfahrungen und Erinnerungen, zu viel „vergiftende Macht aus den Gräbern“ (Thomas Jefferson). Im Osten Europas verspricht man sich dagegen mehr Großzügigkeit, mehr Prärieluft (auch moralische), mehr flotte Saloon-Atmosphäre. Europa sollte gewarnt sein. Zwar ist die Gefahr, daß die Ostmitteleuropäer plötzlich wirklich „junge Europäer“ im Sinne Rumsfelds werden, gering; dessen Prärieluft schmeckt doch ein bißchen zu sehr nach bekannter russischer Steppenluft. Aber raumfremde Mächte mit ihren „kleinen Ententen“ haben in Ostmitteleuropa schon manche Verheerung angerichtet. Ältere Herrschaften müssen da aufpassen.

Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag

ähnliche Themen
Hierfür wurden keine ähnlichen Themen gefunden.