In Bertolt Brechts Keunergeschichten kommt ein Bekannter auf Keuner zu und begrüßt ihn stürmisch. "Du hast dich überhaupt nicht verändert", lobt er. Keuner erbleicht. Denn nur wer sich ändert, bleibt sich selber treu. Viele glauben das nicht, und es ist auch nicht ganz leicht einzusehen. Es stimmt aber. Man muß sich frei-lich über den Sinn des Veränderns und des Treubleibens verständigen.
Jene Politiker und Meinungsfürsten, die ihre Ansichten wie die Hemden wechseln, je nachdem wie der Wind weht und was Beifall und Gewinn verspricht, ändern sich gerade nicht. Sie bleiben die alten Opportunisten, die sie von Anfang des Geschäfts an gewesen sind. Ob sie sich damit auch treu bleiben, steht auf einem anderen Blatt. Im Wesen der Treue liegt etwas, das solchen Opportunisten gänzlich fremd ist: Haltung, Haltung, die Verläßlichkeit garantiert. Die Mitmenschen können sich auf den wirklich Treuen verlassen, darauf, daß er sie nicht übers Ohr haut oder plötzlich "April, April" ruft oder feige den Schwanz einzieht.
Gibt es, außer der Treue zu sich selbst und gegenüber den Mitmenschen, auch eine Treue zur Sache, zur Idee, zu einer bestimmten politischen Option beispielsweise? Wer so fragt, sollte sich darüber klar sein, daß die Sache, die Idee, die politische Option gar nicht existieren. Eine Sache hat immer nur als "Sachverhalt" Konsistenz, d.h. als Objekt der genauen, alle subjektiven Voreingenommenheiten ausschaltenden Analyse. Die Sache selbst hingegen ist ständiger Veränderung unterworfen, meist einer schleichenden Veränderung, manchmal aber auch einer revolutionären, explosiven, die über Nacht völlig neue Verhältnisse schafft.
Ähnlich steht es mit der Idee. Vielleicht gibt es tatsächlich ei-nen "Ideenhimmel" à la Platon, in dem einige wenige Großideen, zum Beispiel die Idee der Haltung, der Treue, unveränderlich vor sich hinwesen. Die allermeisten Ideen jedoch unterliegen genauso der ununterbrochenen Veränderung wie die Sachen, die sie abbilden. Alles fließt, und wir steigen niemals in den selben Fluß.
So kommt es also, daß sich auch und gerade diejenigen, die sich treu bleiben, verändern. Je aufmerksamer, sachlicher, lernbereiter sie sind, um so mehr verändern sie sich. Ihre Treue zu sich selbst und zu den Mitmenschen verlangt von ihnen, sich selbst dauernd zu überprüfen, sich neuen Sachverhalten ehrlich zu stellen und dabei weder auf starke Erfahrungen noch auf Optionen Rücksicht zu nehmen, die als unverrückbar galten und unter Umständen gar mit guten, wertvollen Affekten wie Dankbarbarkeit, Vasallenehre usw. verbunden waren.
Die gegenwärtigen Zeitläufte sind ziemlich turbulent und ermöglichen gute Proben aufs Exempel. Entwicklungen, die sich schon seit langem in der Tiefe der Gesellschaften und Staaten angebahnt haben, treten abrupt ans Tageslicht und lösen Irritation und Bangigkeit aus. Kaum etwas ist mehr so, wie es soeben noch war. Die Er-haltung des Sozialstaats steht in Frage, außenpolitisch der viel- fach bewährte Vasallenstatus zu den USA, der Zusammenhalt der "westlichen Wertegemeinschaft", die Einheit von Thron und Altar (Bush und Papst). Auch findet sich der biedere Zeitgenosse unversehens in Koalitionen mit Partnern, denen er mit Recht zu mißtrauen gelernt hat. Stammtische entzweien sich, Einladungen werden storniert, die Welt scheint aus den Fugen.
Wo ist der Maßstab, der ernsthaften Leuten dennoch zur Orientierung dienen kann? Nun, ganz wichtig ist zunächst einmal, genau hinzuhören. Wie argumentieren die verschiedenen Seiten? Wie rechtfertigen sie ihre diversen Standpunkte? Entartet ihr Reden zur bloßen Propaganda? Wird der Widersacher zum Argumentieren eingeladen, oder wird er rhetorisch niedergewalzt? Stimmen die Beweise? Passieren kurzbeinige Lügen, Argumentationswechsel von einem Augenblick zum anderen, dreiste Wurstigkeit gegenüber Argumenten überhaupt?
Richtig, nämlich wahrhaft angesagt, ist eine Sache immer nur dann, wenn die ihr gewidmete Idee einigermaßen aufrecht und gutgebaut einherkommt; am besten wäre, sie wäre makellos. Natürlich darf man von politischen Parteien keine sprachliche Makellosigkeit erwarten, aber immerhin so etwas wie momentane Konkretheit. Laut dröhnendes Herumreiten auf abstrakten Werten ist fast stets entlarvend. "Wer Menschheit sagt, will betrügen", registrierte schon Carl Schmitt. Werte bewähren sich für Politiker in der konkreten Situation; sie ausdrücklich anzurufen, sollte den Gottesdiensten und Sonntagsreden vorbehalten bleiben.
Es ist gewiß nicht leicht, in Umbruchzeiten ein wackerer Mann zu bleiben. Tugenden überlappen sich mit fragwürdigen Pseudo-Tugenden, besonders in der Wahrnehmung durch die Außenwelt. War das nun, so fragt die sich, souveräne Kaltblütigkeit – oder doch nur schleimige Anpasserei? Hat der nicht reagiert, weil er seine innersten Überzeugungen gefährdet sah – oder war er bloß schwerfällig und begriffsstutzig? In Fontanes hier sehr zuständigem Roman "Vor dem Sturm" gibt es für das Dilemma schöne Beispiele. "Es gibt Treue", seufzt dort schließlich einer, "die, während sie nicht gehorcht, erst ganz sie selber wird."
Selbst konsequentes Sichraushalten, wie es Hans Magnus Enzensberger neulich im Spiegel empfohlen hat, hat seine Tücken, auch wenn es mit "Informationsmangel" begründet wird. Jemand, der sich phasenweise raushält, obwohl er eine Autorität ist und man auf seine Stimme gespannt ist, gerät in größte Peinlichkeiten, wenn er sich später wieder einmischen will. Wo warst du, Adam, als es darauf ankam?
Jedenfalls sollte man sich jetzt schon mal auf den "Tag danach" einrichten, wenn der Sturm vorüber ist und die Dinge sich neu geordnet haben. Diejenigen, die es dann "schon immer gewußt" haben werden und das große Maul führen, sind diejenigen, die weder treu bleiben noch sich wirklich ändern können.