Bei den Bad Hersfelder Festspielen sah Pankraz eine wackere, vielleicht etwas ängstliche Aufführung von Kleists "Prinz von Homburg" in der Inszenierung von Holger Berg, mit einem prächtigen Kurfürsten (Wolfgang Häntsch), einem jungenhaft tapsigen Prinzen (Georg Münzel). Man spielte text- und situationsgenau, und Pankraz fand wieder einmal ausgiebig Gelegenheit, sich über Kleists manchmal doch allzu strategisches Kalkül zu ärgern.
Der Dichter wollte mit seinem Stück Politik machen, wollte die preußische Staatsführung zum verständnisvollen Umgang mit den unruhigen antinapoleonischen Reformern im Lande anregen – deshalb die Verwässerung des moralisch-politischen Problems, um das es geht. Kein Vorwurf, auch nicht der versteckteste, sollte den König treffen, es galt ja gerade, ihn bei Laune zu halten. Es galt, auch im Ungehorsam geradezu naturwüchsige Loyalität zu bezeugen, anders konnte das Stück "oben" keine politische Wirkung entfalten.
Der Prinz ist folglich nicht mehr als ein "lieber, verliebter Junge", politisch unreif, kühn und begeistert zwar, aber ein Schlafwandler, ein Erziehungsobjekt. Könnte man solch einem Kind, so wird gefragt, seinen militärischen Ungehorsam nicht auch einmal gnädig verzeihen, zumal ja am Ende alles gutgegangen ist und die Feinde Brandenburgs im Staube liegen? Vielleicht gibt der Fall gar ein Exempel ab für die aktuelle Lage, Berlin, Sommer 1811!
Dabei wußte Kleist ganz genau, daß es sowohl vom künstlerischen wie auch vom idealtypischen Standpunkt aus viel besser gewesen wäre, den Prinzen als einen reifen, kaltblütigen Truppenführer erscheinen zu lassen, der bei seiner Entscheidung äonenweit von jeglicher Schlafwandlerei entfernt ist. Er hat den kurfürstlichen Befehl, nur auf ausdrückliche Anweisung mit seinen Reitern in die Schlacht einzugreifen, sieht aber mit völliger Klarheit, daß die schwedischen Feinde die Oberhand zu gewinnen drohen. Er sieht: Jetzt oder nie muß die von ihm befehligte Schwadron losschlagen, um das Glück zu wenden und den Sieg zu erringen.
Er ist dem Oberbefehlshaber gegenüber vollkommen loyal und weiß als Soldat, daß es gilt, unverbrüchlichen Gehorsam zu üben. Hinwiederum spürt er mit all seinen militärischen Instinkten und Erfahrungen, daß die konkrete, momentane Situation eine sofortige Attacke seinerseits erfordert; für jede Nachfrage ist es zu spät, kein Kurier zum Kurfürsten käme mehr durch. Also gibt er den Befehl, wissend, daß er gegen allerhöchste Order frontal verstößt und nach der Schlacht Kriegsgericht und Todesurteil zu gewärtigen hat, auch und gerade wenn er siegreich bleibt und das Vaterland durch seinen Einsatz gerettet wird.
Üblicherweise wird der "Prinz von Homburg" heute (wenn er überhaupt noch gespielt wird) gegen seinen Autor gespielt. Der Kurfürst (in Wirklichkeit eine der feinsten psychologischen Rollen, die das deutsche Theater zur Verfügung stellt) ist ein doofer Kommißkopp, der Prinz hat auf jeden Fall recht, ob er nun einen Befehl gegeben hat oder nicht, das schlafwandlerische jugendliche Subjekt steht gewissermaßen turmhoch über jeglicher objektiver Struktur mit ihren Regeln und Anweisungen.
Kleist hingegen macht es sich schwer. Ihn interessiert im Grunde nicht so sehr der Zwist zwischen Subjekt und Objekt, sondern vielmehr der zwischen ausgreifender rationaler Lebensregelung einerseits, intuitiver Erfassung einer konkreten Situation andererseits. Ein derartiger Zwist kommt im Alltag dauernd vor, und er hat meistens auch eine moralische Dimension und ein juristisches Nachspiel.
Was vorgegeben ist, verdankt sich nur selten total egoistischer, diktatorischer Willkür, es sind Erfahrungen und Einsichten von Generationen in ihm gespeichert, und es wird darin – kaum je ohne bedenkenswerte Gründe – intendiert, daß das Ganze gemeint ist, das Recht und die Gerechtigkeit. Dagegen aufzustehen, setzt an sich lange Prüfungen, penible Abwägungen, ausgedehnte Diskussionen voraus. Kein Prinz, von welcher Nobilitierungsart auch immer, darf sich herausnehmen, die komplizierte Struktur außer Kraft zu setzen, einfach weil es ihm so einfällt und er selber so sympathisch ist.
Andererseits gibt es tagtäglich Situationen zuhauf, wo wir von jeglicher Anweisung verlassen werden und ganz für uns selber entscheiden müssen. Jeder Autofahrer weiß das. Jeder Busfahrer oder Zugführer kennt die Last der Verantwortung, die auf ihm ruht und die ihm keine Straßenverkehrsordnung und kein Beamten-Kodex abnehmen kann. In den meisten aller wichtigen Entscheidungen bleiben wir auf uns selbst gestellt, und das betrifft nicht zuletzt jene Entscheidungen, wo es um Leben und Tod geht, um das Leben anderer und um das eigene Leben.
Die Männer des 20. Juli 1944 beispielsweise, von denen viele in der Tradition des Prinzen von Homburg standen, hatten einen Eid auf das geleistet, wogegen sie schließlich aufbegehrten, und das Gewicht dieser gravierenden Festlegung lastete schwer auf ihnen und verlieh ihrer End-Option fast die Kontur eines Gottesurteils. Ihre Intuition, ihr inneres Gespür bezog seine moralische Gediegenheit nicht (oder nicht vorrangig) aus der Orientierung an übergreifenden Systemen, es bezog sie aus der Konfrontation mit furchtbaren, höchst persönlichen Erfahrungen und aus Beobachtungen, die echolos zum Himmel schrieen und eine eindeutige, ganz und gar individuelle existentielle Entscheidung erforderten.
Manche werden im Stil des Kleistschen Prinzen, wie er in Bad Hersfeld zu besichtigen war, sagen: Diese letzten Gewissens-Entscheidungen werden wie aus dem Schlaf heraus gefällt, es sind Entscheidungen von Schlafwandlern. Pankraz würde dem mindestens hinzufügen: Nur wer klug ist und viel gelernt hat, kann auch ein scharfes Gewissen haben.