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Lebendige Lyrik

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Cato, Palmer, Exklusiv

Wer Xavier Naidoo bisher nur für einen Sänger mit begrenztem Stimmumfang und verschieden getönten Brillen gehalten hat, kann ihn nun auf einer CD der besonderen Art als intelligenten Rilke-Interpreten kennenlernen. Mit gewohnt heiserer Sing- und überraschend angenehmer Sprechstimme deklamiert er das Gedicht: „Ich fürche mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus“, das mit der Zeile endet: „Ihr bringt mir alle die Dinge um“. Mit schnoddriger Lakonik holt Naidoo die Verse des 1875 in Prag geborenen Lyrikers in das Hier und Jetzt. Aus seiner Interpretation spricht hörbarer Widerwille gegenüber dem endlosen Gebrabbel und Exhibitionismus der Medien. In ihr wird, was Rilke vor hundert Jahren an Lou Andreas Salomé über das „Unsichtbarwerden der Dinge“ schrieb, die „ihre Existenz immer mehr in die Vibration des Geldes“ verlegen, zu einem Verdikt über die Gegenwart. Die Aufnahme gehört zum „Rilke-Projekt“ des Komponistenduos Angelica Fleer und Richard Schönherz, das in diesem Rahmen bisher zwei CDs, „Bis an alle Sterne“ und „In meinem wilden Herzen“ (BMG Ariola Classics), produziert und dafür zahlreiche prominente, in Profession und Eigenart unterschiedliche Künstler gewonnen hat: Mario Adorf, Veronica Ferres, Christiane Hörbiger, Udo Lindenberg, Hanna Schygulla u. a. Die bekennende „Mondfrau“ Nina Hagen ist ebenfalls dabei, natürlich mit dem Gedicht „Die Welt die monden ist“. Die Lesungen sind unterlegt mit einem Klangteppich, der mal rhytmisch, mal chansonhaft, rockig oder psychedelisch daherschwebt, in jedem Fall aber diskret und dezent bleibt. Die Gefahr, ins Gefällige oder Süßliche abzugleiten, ist nicht zu überhören, wird in den allermeisten Fällen jedoch abgewendet. Am meisten beeindrucken die „Dinggedichte“, die einem lyrischen Programm folgen, das Rilke unter dem Eindruck der Malerei Cezannes konzipierte, an der er die „animalische Aufmerksamkeit und unglaubliche Steigerung des reinen Schauens“ bewunderte. Wer könnte diese sinnliche Urgewalt besser ausdrücken als Otto Sander, der den „Panther“ mit dunkel-samtiger Stimme liest und dessen Timbre das edle Raubtierfell assoziiert? Wann immer man sich mit diesem Gedicht künftig beschäftigt, wird man Sanders Stimme im Ohr haben. Die Kunst des guten Interpreten besteht darin, etwas von sich selber mitzuteilen und dabei nicht zu vergessen, daß er nur das Medium einer Hauptsache ist. Hannelore Elsner liest „Du mußt das Leben nicht verstehen“ mit einem sparsamen stimmlichen Einsatz, dafür mit um so feinerer Nuancierung. Die wunderbare Darstellerin aus Oskar Roehlers Film „Die Unberührbare“ wird dabei ganz präsent, doch vor allem beginnen Rilkes Verse zu leben. Lyrik-Puristen werden sich daran stoßen, daß einige Verse in artifizieller Weise wiederholt und Gedichte zu Liedern werden. Peter Maffays „Menschen bei Nacht“ klingt wie eine typisch Maffaysche Rockballade: „Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt, / das von ihren Gesichtern träuft, / und haben sie nachts sich zusammengesellt / so schaust du eine wankende Welt …“ Hier stellt sich tatsächlich die Frage, ob Rilke nicht doch nur ein Vorwand zur Selbstdarstellung ist. Man kann die Frage verneinen. Rilkes Nachtgedanken schließen auch die Verlorenheit des Nachtschwärmers ein, die auf den Gemälden der französischen Impressionisten und des Amerikaners Edward Hopper genauso anwesend ist wie in den Lokalen in Berlin-Mitte. Schönherz & Fleer verstehen ihr „Rilke-Projekt“ als Kontrastprogramm zur atemlosen Gegenwart. Rilkes Lyrik ist wie der Igel, der dem Hasen zuruft: Ich bin längst da!

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