In vielen der meist absprechenden oder feindseligen Rezensionen, die dem ersten Band von Alexander Solschenizyns russisch-jüdischer Geschichte „Zweihundert Jahre zusammen“ zuteil geworden sind, wurde offen oder in leichter Verhüllung die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, der Verfasser des „Archipel Gulag“ werde in dem zweiten Bande über „Die Juden in der Sowjetunion“ die alte und zu Beginn der zwanziger Jahre in Europa weit über „bürgerliche“ Parteigrenzen hinaus verbreitete, ja nahezu selbstverständliche These wieder aufgreifen und mit der ganzen Kraft seiner Sprachkunst neu begründen, seit dem Oktoberumsturz von 1917 hätten die Juden in Sowjetrußland die Macht in ihren Händen gehabt und man müsse von dem „jüdischen Bolschewismus“ sprechen. Diese Befürchtung dürfte gegenstandslos sein, seitdem die Publikation – 2002 in Rußland und im Jahre darauf in Frankreich und Deutschland – vorliegt. Zwar fiel schon während der Februarrevolution 1917 Zuschauern und Berichterstattern die Tatsache ins Auge, daß unter den Agitatoren viele sogleich als Juden erkennbar waren, und als Anfang des Putsches der Bolschewiki gegen die unmittelbar bevorstehende Bildung einer Regierung aus allen sozialistischen Parteien kann man die Sitzung des obersten Gremiums der bolschewistischen Partei am 10. Oktober 1917 betrachten, von dessen zwölf Mitgliedern sechs Juden waren. Aber zwei von diesen Juden widersetzten sich dem Leninschen Plan der gewaltsamen Machtergreifung, und sowohl für die Orthodoxen wie für die Zionisten waren alle sechs „Abtrünnige“, wie sie von Solschenizyn selbst bezeichnet werden. Und in dieser Anfangszeit gab es eine größere Anzahl von Juden unter den Menschewiki und den Anarchisten; erst nach dem Sieg der Revolution schloß sich „das junge, aktive, verweltlichte Judentum“ in großen Teilen der bolschewistischen Partei an, und später wurde es zu einem Hauptmotiv vieler Juden, daß nur die Herrschaft der bolschewistischen Partei sie vor dem „Massaker“ schützen könne, das nach einem Sieg der Weißen Armeen und überhaupt nach einem Zusammenbruch der Bolschewiki zu erwarten sei. So nimmt Solschenizyn schon im dritten Kapitel das Ergebnis seines Forschens und Nachdenkens vorweg : „Nein, die Juden waren tatsächlich nicht die wichtigste treibende Kraft des Oktoberumsturzes“, und nicht viel später bekräftigt er diese Aussage im Hinblick auf das folgende Jahrzehnt: „Nein, die Staatsmacht war damals nicht jüdisch. (…) Die Macht war multinational.“ Aber trotz aller Buntheit ihrer Zusammensetzung agierte diese Macht ganz einheitlich in dem Willen zur Zerstörung des russischen Staates und der russischen Tradition, und mithin waren auch die zahlreichen beteiligten Russen als „antirussisch“ zu bezeichnen. Das alles ändert nach Solschenizyn freilich nichts daran, daß Juden in der bolschewistischen Partei und zumal in deren Führung ganz überproportional vertreten waren. Und so zählt Solschenizyn denn zahlreiche Namen auf: von Trotzki und Sinowjew angefangen über die Generäle Gamarnik und Jakir bis zu den führenden Tschekisten Jagoda, Eitingon und Berman. Zumal in der Tscheka blieben Juden bis weit in die Jahre der „stalinistischen“ Säuberungen hinein in sehr starker Position, und so muß ihnen nach Solschenizyn eine Mitverantwortung für jene entsetzlichen Greueltaten zugeschrieben werden, die im Bürgerkrieg zu Befehlen wie den folgenden führten: „Kosakensiedlungen und sonstige Ortschaften, die den Weißen oder den ‚Grünen‘ Unterschlupf gewähren, werden vernichtet, die ganze erwachsene Bevölkerung wird erschossen, alles Eigentum beschlagnahmt“. Aber es ist auffallend, daß Solschenizyn im vierten Kapitel, das dem „Bürgerkrieg“ gewidmet ist, den Greueltaten der Weißen mindestens ebensoviel Platz einräumt wie denjenigen der Roten und daß er die schrecklichen Petljura-Pogrome in der Ukraine keineswegs ausläßt. Allerdings unterstreicht er den Umstand, daß das Ursprüngliche und Primäre auf der bolschewistischen Seite zu verorten ist, nämlich in der offen proklamierten Klassenvernichtung durch den „Roten Terror“, der längst vor seiner offiziellen Ausrufung nach dem Attentat der jüdischen Sozialrevolutionärin Fannija Kaplan auf Lenin (im September 1918) von der Tscheka in Gang gesetzt worden war. Auffallend ist ferner, daß Solschenizyn darauf verzichtet, eine längere und anschauliche Darstellung jener spezifisch bolschewistischen, gegen „Klassen“ gerichteten Vernichtungsmaßnahmen und Untaten zu geben, wie er sie im Anschluß an die als verläßlich geltende Darstellung von Sergej Melgunow von 1924 hätte geben können. Das Kapitel 8 „In den Lagern des Gulag“ ist nur sehr kurz, und Solschenizyn sieht auch hier davon ab, eine bewegende und verstörende Schilderung jener sozialen und gutenteils auch physischen Vernichtung des russischen Bauerntums durch die sogenannte „Kollektivierung“ vorzunehmen. Diese wurde von nichtjüdischen und jüdischen Bolschewiki mit jener unfaßbaren Mitleidlosigkeit betrieben, von der Solschenizyns Freund, der einstige „jüdische Bolschewist“ Lew Kopelew, aus der Erinnerung heraus auf erschütternde Weise Zeugnis gegeben hat. Der Autor, der schon im „Ersten Kreis der Hölle“ die immerhin erträglichsten Zustände in sowjetischen Haftanstalten beschrieben hatte, durfte darauf verzichten, auch in diesem Buch auf prononcierte Weise Abscheu und Schrecken unter seinen Lesern hervorzurufen. Die eigentliche Intention dieses zweiten Bandes ist offenbar nicht die Schilderung von Greueln oder die Feststellung von ethnischen Prozentzahlen unter den Tätern. Was Solschenizyn am meisten beschäftigt, ist die Macht einer übernationalen Ideologie und die Gegenmacht der Festigkeit nationaler Eigenarten. Deshalb ist seine Hauptthese die folgende: „Nicht in der Volkszugehörigkeit lag der wichtigste Schlüssel zur Erklärung (des Bolschewismus, der Rez.), sondern im scharfen, böigen Wind des Internationalismus, der für die ganze frühsowjetische Zeit kennzeichnend war“. Der Bolschewismus war also internationalistisch oder universalistisch, und seine Vorkämpfer durften davon überzeugt sein, alle „nationalen“ Kennzeichen und Verhaltensweisen von sich abgetan zu haben, wie Solschenizyn es für den „Juden“ Trotzki ausdrücklich unterstreicht. Aber nach dem Sieg über Hitler und den deutschen Nationalsozialismus stellte Stalin „das große russische Volk“ in den Mittelpunkt der Rühmung, und zahlreiche sowjetische Juden, die sich für völlig „entjudet“ hielten, fanden nach der Gründung Israels zu einem jüdischen Selbstbewußtsein zurück, so daß Stalin durch den Empfang, welcher der ersten Botschafterin Israels, Golda Meir, im Juni 1948 in Moskau bereitet wurde, auf das stärkste beunruhigt war. Der Feldzug gegen den „Kosmopolitismus“, die Todesurteile gegen fast alle Mitglieder des im Kriege so sehr geförderten „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“, das offen antijüdische Verfahren im Prozeß gegen Rudolf Slansky und nicht zuletzt die Einleitung des Verfahrens gegen die „Kreml-Ärzte“ im Jahre 1952 gehören mindestens teilweise in diesen Zusammenhang. Und nach dem Tode Stalins verlangten immer mehr Juden auf immer dringendere Weise nach der Erlaubnis zur Auswanderung nach Israel – nach einer Erlaubnis, die schließlich entgegen allen sowjetischen Gewohnheiten unter dem Druck einer amerikanischen Kampagne erteilt wurde und die als ein wichtiges Vorzeichen des späteren Untergangs der Sowjetunion betrachtet werden darf. Aber jene Emotion des Autors, die Solschenizyn im Hauptteil des Buches in so auffallender Weise hatte zurücktreten lassen, kommt besonders deutlich am Ende zum Vorschein, wo von den schroff antirussischen und nach Solschenizyns Meinung symptomatischen Äußerungen die Rede ist, die von einigen der ausgewanderten Juden getan wurden. Dieser Augenblick der inneren und großenteils auch äußeren Trennung zweier Völker wäre „der Moment gewesen, um mit reinigender Reue selbst von der ehemals tatkräftigen Teilnahme am Triumph des Sowjetregimes und von der grausamen Rolle, die man dabei gespielt hat, zu sprechen“. Aber das sei kaum je vorgekommen, obwohl doch schon 1924 von emigrierten Juden eine eindringende Selbstkritik vorgelegt worden sei (und obwohl, wie man ergänzen könnte, der große jüdische Historiker Simon Dub-now schon 1918 im Hinblick auf den Bolschewismus von der „Schuld der Juden“ gesprochen hatte). Statt dessen habe man weiterhin anklagendes Pathos gegen das russische Volk an den Tag gelegt und sogar die extreme Behauptung vorgebracht, der Bolschewismus Lenins und seiner großenteils jüdischen Anhänger sei lediglich „eine intellektuelle und zivilisierte Umsetzung des Bolschewismus des Pöbels“ gewesen, in dem die von den Mongolen herrührende „asiatische Struktur“ des russischen Volkscharakters zum Vorschein gekommen sei. „Zur Ehre der Juden“ räumt Solschenizyn aber ein, daß es auch andere Stimmen unter den Juden gab und daß von einzelnen jüdischen Denkern sogar die Behauptung nicht von vornherein abgewiesen (und schon gar nicht als „antisemitisch“ charakterisiert worden war), „daß die Shoa in bedeutendem Maße eine Strafe für die Sünden war, unter anderem für die Sünde der Leitung der kommunistischen Bewegung“. So sieht sich Solschenizyn in seiner Überzeugung bestätigt, daß es in der Tat „zwei Völker“ waren, die mehr als zweihundert Jahre lang trotz aller Angleichungsversuche des Zarentums und der Sowjetmacht und trotz des übergreifenden Einflusses einer machtvollen Ideologie „zusammen“, aber nicht gemeinsam lebten. Beide müßten in der Stunde der Trennung eine „Bewältigung“ ihrer Vergangenheit an den Tag legen, welche einige Ähnlichkeit mit der jahrzehntelangen, schmerzhaften und schließlich geglückten „Vergangenheitsbewältigung“ der Deutschen haben sollte. Dazu gehören die teilweise sehr harten Urteile, die Solschenizyn über die Russen fällt, aber auch die ungemein positiven, welche den Juden als einem „einzigartigen“ und ganz außerordentlich begabten Volke gelten. Aber gerade aus dem uralten Empfinden der „Auserwähltheit“ rührt die innere Fremdheit gegenüber allen anderen Völkern und jene extreme Selbstbezogenheit, die jede noch so berechtigte Kritik und Selbstkritik als „Antisemitismus“ verteufelt und nur ein einziges „absolutes Böses“ kennt, nämlich das Hitler-Regime, das doch, wie Solschenizyn schon im „Archipel Gulag“ geschrieben hatte, einen „schülerhaften“ Charakter trug. So dürfte Solschenizyn mit einiger Skepsis auf seine eigene „zum gegenseitigen Verständnis“ ausgestreckte Hand blicken, mit der er im übrigen die freilich seltene Möglichkeit einer genuinen Synthese zwischen dem Russischen und dem Jüdischen nicht ausschließt, die er in seinem Leben nicht nur gewünscht, sondern (durch seine zweite Ehe) auch realisiert hat. Zum Abschluß mögen einige weiterführende Überlegungen gestattet sein: Wenn man den heute im Westen selbstverständlichen, ja modischen Begriff der „Globalisierung“ in dem adäquaten und umfassenden Sinne zugrunde legt, läßt sich folgendes sagen : Man braucht nur die frühen Verlautbarungen der bolschewistischen Partei und der Dritten Internationale zu lesen, um wahrzunehmen, daß diese Partei sich als die entschiedenste Vorkämpferin der Globalisierung betrachtete und daß ihr insofern in der Geschichte, die bis dahin so sehr durch die Konflikte von Nationen und Staaten geprägt war, eine positive Bedeutung zuzuschreiben ist. Aber sie faßte die von ihr aktiv geförderte Globalisierung als eine „Verschmelzung“ aller Völker und Nationen zu einem einzigen staat- und klassenlosen Weltgemeinwesen auf. Der Widerstand gegen diese wahrhaft weltgeschichtliche und sich gerade aus der bisherigen Geschichte herausstellende Bewegung, die keineswegs in ihrer Ganzheit „jüdisch“ und doch mit dem „messianischen“ Konzept des Judentums verknüpft war, war mindestens für die nächsten hundert Jahre ebenfalls legitim und er nahm im Nationalsozialismus eine ebenfalls überschießende, zur Reduzierung des Menschen auf seine biologische Natur tendierende Gestalt an. Dieser Widerstand war nicht als solcher „deutsch“, sondern ein paradoxes Produkt der adlig-kriegerischen Vergangenheit Europas, aber zumal Deutsche waren darin weit überproportional vertreten. Der essentielle, von Anfang an gegebene und verkündete Wille des Bolschewismus war die „soziale“ Klassenvernichtung, die sowohl das „zurückgebliebene russische Bauerntum“ wie die in Europa und den USA führende und durchaus progressive Klasse der „Bourgeoisie“ betraf. Eine entsprechende „Gegenvernichtung“ war nur möglich, wenn eine „biologische“ Gruppe als alleinige Ursache der zerstörerischen Globalisierung namhaft gemacht werden konnte. In seiner 1939 in fünfter Auflage erschienenen Schrift „Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation“ identifizierte Heinrich Himmler in der Spur Hitlers den Bolschewismus von vornherein mit dem Judentum, und aus der SS, die sich in einer Kontinuität zu den „weißen Armeen“ Rußlands sehen durfte, kamen bekanntlich die wichtigsten Vollstrecker der „Endlösung“. Diese Endlösung war einzigartig, und nicht zuletzt deshalb, weil von keinem anderen Volk hätte behauptet werden können, es sei die Ursache des weltgeschichtlichen Prozesses. Aber sie läßt sich gleichwohl von jener anderen Endlösung des Versuchs der Beseitigung von Privateigentum, Staaten und differenzierter Gesellschaftlichkeit nicht trennen. Die Deutschen haben nach Solschenizyns und einer in der ganzen Welt verbreiteten Auffassung ihre unumgängliche „Vergangenheitsbewältigung“ vollzogen, wenngleich, wie hinzuzufügen ist, auf nicht eben gedankenvolle und gutenteils opportunistische Weise. Die Juden haben ihre eigene und jedenfalls eigenartige Vergangenheitsbewältigung noch vor sich, wenn Solschenizyn recht hat. Falls sie seine Forderung mit überzeugender Begründung als „Antisemitismus“ anklagen können, haben sie sich definitiv als das säkularisierte „Volk Gottes“ erwiesen; falls sie dieses Verlangen dagegen weiterhin mit bloßer Empörung zurückweisen, hätten sie, in der Sprache des großen Schriftstellers, eine „geschichtliche Sünde“ durch ein geistiges Verfehlen auf gravierende Weise verschlimmert. Foto: Präsidium des Allrussischen Zentralexekutivkomitees in Petrograd 1918: Sitzend von links, Moissej S. Urizki, Lew D. Trotzki, Jakov M. Swerdlow und Grigori J. Sinowjew: Alle „nationalen“ Kennzeichen und Verhaltensweisen von sich abgetan Alexander Solschenizyn: „Zweihundert Jahre zusammen“. Die Juden in der Sowjetunion. Herbig Verlag, München 2003, 608 Seiten, gebunden, 39,90 Euro Prof. Dr. Ernst Nolte , geboren 1923, ist emeritierter ordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Sein letztes Buch „Der kausale Nexus. Revision und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft“ erschien 2002 im Herbig Verlag
- Kommentar