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Intellektueller Bankrott

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Der Angriff erfolgte rücksichtslos, heimtückisch und mit der größtmöglichen Härte. In einem Offenen Brief an Martin Walser unterstellte der FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher am 29. Mai 2002 dem Schriftsteller ein „Repertoire antisemitischer Klischees“; dessen Roman „Tod eines Kritikers“ sei ein „Dokument des Hasses“, eine „Mordphantasie“, die sich in Gestalt der Romanfigur André Ehrl-König gegen den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki richte. Daß Walsers Buch zu diesem Zeitpunkt nur als Rohmanuskript vorlag, verschaffte Schirrmachers Attacke zusätzliche Brisanz. Tagelang konnte niemand außerhalb der FAZ-Redaktion die Vorwürfe überprüfen. Allein aufgrund des Offenen Briefes wurden sogar Forderungen laut, der Suhrkamp Verlag dürfe das Buch überhaupt nicht veröffentlichen. Zu Recht nannte Thomas Steinfeld, Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung, die Denunziation eines noch nicht erschienenen Buches „ein Verfahren, das nicht nur in der deutschen Presse ohne Beispiel ist“. Nie zuvor habe jemand ein literarisches Werk schon vor seiner Veröffentlichung „so spektakulär inkriminiert“. In den folgenden Wochen – Walsers Manuskript zirkulierte inzwischen im Literaturbetrieb als E-Post – tobten erbitterte Wortgefechte zwischen Gegnern und Fürsprechern des Schriftstellers vom Bodensee. Dabei nahm eine Mehrzahl der professionellen Kritiker, darunter Joachim Kaiser in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT, Walser gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz. „Antisemitismus stellt eine bösartige, absolute Haltung dar, die man klar benennen kann. Das ist bei Martin Walser nicht im entferntesten der Fall“, verteidigte Kaiser den Schriftsteller gegenüber dieser Zeitung (JF 28/02). Als Walsers Roman einen Monat nach Schirrmachers versuchtem Rufmord endlich in den Handel kam, konnte sich schließlich jeder Leser selbst davon überzeugen, daß es sich bei den Vorwürfen um bösartige Verleumdungen handelte, die nun vollends auf ihren Urheber zurückfielen. Ein Jahr nach diesem beispiellosen Literaturskandal haben jetzt die Heidelberger Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel einen Sammelband ediert, der „den vielfach denunziatorischen Lesarten des Romans (…) die Genauigkeit philologischer Lektüre“ entgegensetzen will. In insgesamt 15 Beiträgen untersuchen Literaturwissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen, dazu ein Jurist sowie ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Walsers „Tod eines Kritikers“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Was die Autoren über die Grenzen ihrer Fachrichtung hinweg miteinander verbindet, ist ihr Anspruch, sich auf die reine Interpretation von Walsers Romantext, seiner Figurenkonstellation, Handlungsebenen und Erzähltechnik zu konzentrieren. Verhandelt wird nicht die vermutete Meinung oder Intention des Schriftstellers, im Vordergrund steht die „gestaltete Sache“ (Horst-Jürgen Gerigk). Vor allem darin unterscheiden sich die Beiträger dieses Sammelbandes wohltuend von Frank Schirrmacher, der bei seinen Unterstellungen in die „Sprache der Politik“ (Rainer Wimmer) gewechselt sei. Deutliche Worte finden die Herausgeber für das Verhalten der Frankfurter Allgemeinen und Schirrmachers gegenüber dem langjährigen FAZ-Mitarbeiter Walser. „Angesichts der einseitigen Informationspolitik der FAZ und der Unterdrückung von Gegenmeinungen ist das Wort Zensur im Falle des Umgangs mit Walsers ‚Tod eines Kritikers‘ durchaus angebracht. Die lange Zeit führende deutsche Tageszeitung hat durch diese Affäre jedenfalls gewaltig an moralischem und intellektuellem Kredit verloren“, resümieren Borchmeyer und Kiesel gleich in ihrem Vorwort. Von der vorgegebenen Meinung abweichende Stimmen, seien es angebotene Artikel renommierter Autoren oder Leserbriefe, wurden von der FAZ grundsätzlich nicht gedruckt. Kluge Köpfe, die mehr erfahren wollten, mußten sich woanders informieren. Als exemplarisch für den Umgang mit Fürsprechern Walsers kann gelten, was Borchmeyer in eigener Sache zu berichten weiß. Nachdem er am 1. Juli 2002 im Focus eine Rezension des Walser-Romans veröffentlicht hatte, in der er sich von Schirrmachers Offenem Brief entschieden distanzierte, wurde ihm von der Feuilleton- und Literaturredaktion der FAZ die fast seit einem Vierteljahrhundert bestehende Mitarbeit aufgekündigt. Selbst zuvor vereinbarte und bereits gelieferte Artikel wurden nicht mehr gedruckt, Briefe von Borchmeyer an die Redaktion und die fünf Herausgeber blieben unbeantwortet. Dieses enge geistige Klima in der Bundesrepublik führen die beiden Herausgeber des Sammelbandes auf ein „Gefühl ideologischer Leere“ seit der Wiedervereinigung zurück, aus dem ein „Bedürfnis nach Leitmeinungen“ erwachsen sei, das sich in einer „nicht selten inquisitorischen Pflege politischer Korrektheit“ ausdrücke. Der Fall Walser sei ein erschreckendes Beispiel für die Art und Weise, „wie jeder, der sich nicht der verlangten politischen Rechtschaffenheit befleißigt, von der Kommunikationspolizei ausgegrenzt zu werden droht“. Norbert Greiner, der an der Universität Hamburg Englische Literatur lehrt, weist in diesem Kontext auf zwei aufschlußreiche Besprechungen des Walser-Romans im Times Literary Supplement und der London Review of Books hin, die hierzulande weitgehend unbeachtet geblieben sind. Beide Rezensenten entdeckten in Walsers Text, so Greiner, eine provozierende Ironie, die mit der deutschen Anfälligkeit zur Selbstbezichtigung spiele und testen wolle, wie weit in der deutschen Öffentlichkeit die Toleranz gegenüber einem Verhalten gehe, das von dem als politisch korrekt definierten Denken scheinbar abweicht. Von deutschen Kritikern sei diese Ironie weder erkannt worden noch überhaupt gewollt. Vielmehr werde jeder, der sich nicht an das Konzept biederer, ideologischer Rechtschaffenheit anschmiege, „bereitwillig mißverstanden“. Diesem gewollten Mißverstehen, mit dem Martin Walser schon im Herbst 1998 anläßlich seiner Friedenspreis-Rede in der Frankfurter Paulskirche konfrontiert war, setzen die Beiträger des Sammelbandes ihre gleichermaßen fundierten wie abwägenden literaturwissenschaftlichen Urteile entgegen. Danach lesen sich heute mehr denn je Schirrmachers Invektiven gegen Walser, insbesondere der ehrverletzende Antisemitismus-Vorwurf, wie die intellektuelle Bankrotterklärung eines Schaumschlägers. Foto: Martin Walser, aufgenommen am 15. März 2002 am Bodensee: Provozierendes Spiel mit der deutschen Anfälligkeit zur Selbstbezichtigung Dieter Borchmeyer, Helmuth Kiesel (Hrsg.): Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 288 Seiten, 17,90 Euro

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