Soeben ist ein außergewöhnlicher Thriller in den deutschen Kinos angelaufen: „Ich habe keine Angst“ spielt im flirrenden Sommer des Jahres 1978 im süditalienischen Apulien. Inmitten riesiger goldgelber Kornfelder liegt ein abgeschiedenes Dorf, ein Nest am Ende der Welt. Hier lebt der neunjährige Michele (Giuseppe Cristiano), der mit seinen Freunden ausgedehnte Fahrradtouren und Mutproben durchlebt. Bei einem verfallenen Gutshaus entdeckt Michele ein Erdloch, findet dort einen gleichaltrigen Jungen, angekettet und verdreckt. Er freundet sich vorsichtig mit dem Jungen an, versorgt ihn mit Nahrung. Schließlich findet er heraus, daß die Erwachsenen des Dorfes hinter dem Geheimnis um den Jungen stecken. Michele gerät in innere Konflikte, schwankt zwischen der Hörigkeit gegenüber seinen Eltern und der erwachenden eigenen Moralität. Der italienische Regisseur Gabriele Salvatores (geboren 1950) hatte 1992 den Oscar für „Mediterraneo“ als besten fremdsprachigen Film erhalten. Nun hat er einen in gleißendem Licht spielenden Kriminalfilm voller versteckter Symbolik gefertigt, gedreht auf Augenhöhe eines Kindes. Es ist ein Film über Neugier, über daraus erwachende Selbsterkenntnis und die Entdeckung menschlicher Solidarität. Die JUNGE FREIHEIT sprach mit Gabriele Salvatores: Herr Salvatores, in Ihrem Film beeindruckt die Weite der Landschaft. Wie ist Ihr Verhältnis zu Landschaft? Verstehen Sie diese als das Ewige, Unveränderte, demgegenüber menschliches Tun letztlich geringe Bedeutung besitzt? Salvatores: Sicher. Es geht darum, die Schönheit der Natur zu zeigen, und dies gerade im Gegensatz zu dem Bösen, das in dieser Natur geschieht. Die Natur bleibt unverändert, sie kennt aber auch kein Mitleid. Kinder entdecken mit dem Fahrrad die Welt, Erwachsene ziehen sich zurück in ihre Behausungen. Der kindliche Drang nach außen endet mit dem Erschrecken vor der Wahrheit der Erwachsenenwelt. Erlebt jeder von uns einmal diesen Schreckmoment? Salvatores: Die Erwachsenen wollte ich zu Hause und in der Dunkelheit zeigen. Die Kinder dagegen gehen nach draußen. Das Fahrrad ist dabei das erste Motiv für Unabhängigkeit bei den Kindern, das erste Bewegungsmittel. Es ist ähnlich dem Pferd bei den Cowboys ein Symbol für die Lust aufs Draußen. Bei Kindern gibt es bis zum Alter von etwa 12 Jahren einen inneren Drang, der auf der Neugier gründet, der hinter die Dinge blicken möchte. Ein Drang, der später, wenn wir Erwachsene werden, leider zurückgeht. Die Erwachsenen bleiben zu Hause, ein Verhalten, das zunimmt, wenn man älter wird. Auch der Protagonist in meinem Film ist nur von der Neugier bewegt. Eine Moral besitzt er als Kind aber noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich als Erwachsener zu einem Ort, der mich erschreckt hat, zurückkehren würde. Das Kind in meinem Film macht das, denn es sucht Antworten. Neugier ist nötig, um die Dinge zu erfassen. Statt dessen werden wir oft von der Angst vor dem Gewaltigen beherrscht. Die Entdeckung der Dinge aber hilft uns, die Angst zu überwinden. Der Junge Michele nimmt in Ihrem Film schließlich seinen Mut zusammen und rebelliert gegen die Welt der Alten. Ist die Rebellion der Jungen ein zwangsläufiges Gesetz des Lebens? Salvatores: Es gibt zwei Aspekte von Rebellion, den politisch-sozialen und den existentiellen. Der soziale Aspekt ist natürlich die Solidarität von Michele mit dem entführten Kind, was ihn in Gegensatz zur Erwachsenenwelt bringt. Der existentielle Aspekt besteht in der Tatsache, daß die Menschen, wie schon in griechischen Sagen thematisiert, den Vater metaphorisch töten. Michele wendet sich in meinem Film gegen die Verbrecherfigur, um sich selbst auszudrücken. Es ist für ihn ein Verlust und Abschied von der Kindheit und ein Weitergehen zur Erwachsenenwelt. Beeinflußt bin ich bei meiner Konzeption von einem in den sechziger Jahren geschriebenen Buch des Priesters Don Milani, der verkündet hat, daß es kein Böses sei, sich gegen die Erwachsenen zu stellen. Eine Tendenz, die gerade heute Wichtigkeit besitzt. Der Blick in das Erdloch. Inwieweit gehört es zum Erwachsenwerden, das unbewußte Sein zu überwinden und zu lernen, in die eigenen Abgründe zu schauen? Salvatores: Nun, Antonio Gramsci, der Gründer der Kommunistischen Partei Italiens, äußerte einmal, daß reiner Verstand nicht ausreicht, um die Realität wirklich verstehen zu können. In das Loch zu sehen ist in dem Film symbolischer Ausdruck für den Blick in einen Teil des Selbst. Psychologen deuten das Loch zudem als den Uterus der Mutter. Das Kind dort herauszunehmen, ist wie eine Wiedergeburt. weitere Interview-Partner der JF