Die Deutschen leben auf solch heißem Pflaster, daß man in Bremen nicht mitkriegt, wenn in München ein Mord geschieht, essen Guglhupf mit Eisbein und zum Frühstück Käse – obwohl sich vor allem die jüngere Generation schon mit Müsli und Toast angefreundet hat. So berichtete kürzlich die Wellingtoner Tageszeitung The Dominion Post in ihrer Rubrik „EthniCity – Celebrating Cultural Diversity“. Über tausend deutsche Staatsbürger leben in der neuseeländischen Hauptstadt, knapp zehntausend im ganzen Land. Diese „Feier der Vielfalt“ gehört zu den zahlreichen Aktionen, mit denen Neuseeland derzeit darüber hinwegzutäuschen (wenn nicht zu trösten) sucht, daß seine wahre Leitkultur – wie seine Einwanderungspolitik – die der neoliberalen Leistungsgesellschaft ist. Zwar sind die Zeiten, als gemäß der Richtlinie „Wer anders ausschaut, wird auch komisch angeschaut“ Zuwanderer vor allem aus Großbritannien und Nordeuropa angeworben wurden, seit den 1980ern offiziell vorbei. Heute bemüht man sich, mit Hilfe eines Punktesystems Humanressourcen aufzustocken und zahlungskräftige Investoren ins Land zu locken. Um so mehr Arbeitgeber scheinen überzeugt, daß ein Mitarbeiter, der nicht fachkundig die neuesten Erfolge der Rugby- und Kricket-Nationalmannschaften zu diskutieren weiß, den Mindestlohn von acht Dollar (vier Euro) nicht wert ist. In dem deutschsprachigen Anzeigenblatt Neuseeland News rät ein Rechtsanwalt und Berater in Einwanderungsfragen seinen Landsleuten, sich auf keinen Fall aus Karrieregründen für Neuseeland zu entscheiden. Im Gegenteil müsse man bereit sein, den sonstigen Vorzügen des „Kiwi way of life“ zuliebe erhebliche berufliche Rückschritte in Kauf zu nehmen. Bei einem Empfang, der an „Nikolaus Night“ zur Feier der Veröffentlichung einer Studie über deutsche Einwanderung im 20. Jahrhundert in der Wellingtoner Nationalbibliothek stattfand, repräsentierten nicht nur der deutsche Botschafter und das örtliche Goethe-Institut die Bundesrepublik, sondern auch die Firma Brezelmania, die seit vorletztem Jahr ihre Ware im Großraum Wellington vertreibt. Die Laugenbrezeln zu 1,45 Dollar, die Bavarias und Schwarzwälder gehen weg wie warme Semmeln – ein Wortspiel, das auf Englisch nicht recht zündet: „selling like hotcakes“, Kartoffelküchlein, heißt es dort. Statt dessen begnügt man sich mit dem dezent schwarz-rot-gold unterlegten Motto „The best from Germany since 1872“. Auf die Flüchtlinge der dreißiger und vierziger Jahre, stellt Brigitte Bönisch-Brednich in ihrer Habilitationsschrift „Auswandern. Destination Neuseeland“ (Mana Verlag, Berlin 2002) fest, folgte eine Generation, die den wirtschaftlichen Neuanfang in einem friedlichen, gastfreundlichen Land suchte. Seit den Siebzigern kommen hauptsächlich „Individualisten“. Sie fliehen vor der Umweltverschmutzung, der nuklearen Gefahr, der bürokratischen Durchdringung allzu vieler Lebensbereiche, das Motiv, das bei anderen Einwanderungsgruppen vor allem aus dem asiatischen Raum vorherrscht – selber zurückzustecken, um den Kindern gute Bildungschancen in einem englischsprachigen Land zu sichern -, scheint aus deutscher Sicht eher uninteressant. Gemeinsam ist diesen Migrationswellen die Entschlossenheit, Europa hinter sich zu lassen und die Kultur der Wahlheimat aufzusaugen, auch wenn der starke Akzent anfangs zu schaffen macht. „Fush and chups“ mögen noch verdaulich sein, aber daß es am „pei“-day nicht pie (Fleischpastete), sondern pay (Lohntüte) gibt, verwirrte einen Handwerker, den Bönisch-Brednich interviewte. Nicht umsonst lautet der Titel der englischen Ausgabe „Keeping a Low Profile“. Besonders bedeckt hielten deutsche Einwanderer sich während des Zweiten Weltkriegs und der Internierung auf Somes Island im Wellingtoner Hafen. Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit gaben sich viele als Holländer aus. Wie tief der Deutschen Trauma, als Deutsche entlarvt zu werden, heute noch sitzen kann, offenbart Bönisch-Brednich selbst in ihrem Grußwort: Sie habe geträumt, daß der Wellingtoner Verleger ihr Buch mit einem Foto aus der Wehrmachtsausstellung als Titelbild versah. Weniger Berührungsängste zeigt der Historiker Stevan Eldred-Grigg, der 1997 auf Kosten des deutschen Außenministeriums in Berlin weilte, um für seinen Roman „Kaput!“ zu recherchieren. Zum Entsetzen seines Verlegers wie seiner Familie, für die „Bomb the Germans“ heute noch ein geflügeltes Wort sei, wollte er ein Buch über „gewöhnliche Deutsche“ im Jahr 1944 schreiben, in dem das Wort „Jude“ nicht vorkam. Ende November lud das New Zealand Book Council zu einer Veranstaltung unter dem vielversprechenden (und viel weniger haltenden) Titel „Aryans, the Third Reich, Terrorism and Utopia“ ein, bei der Eldred-Grigg und die Schriftstellerin Tina Shaw ihre Deutschland-Erfahrungen zum besten gaben. Besonders beeindruckend fanden beide die Lust der Deutschen am Krawall, die Rauchschwaden im Café Einstein, die Pelzmützen und dicken Wintermäntel. Die Mauer dagegen habe seiner Beobachtung nach in der Berliner Psyche kaum Spuren hinterlassen – schließlich sei jede Stadt irgendwie ein bißchen geteilt, sagte Eldred-Grigg, was viele im Publikum auch als Anspielung auf Wellingtons Identitätskrise verstanden und dankbar abnickten. Nachdem in den letzten Monaten gleich mehrere Großunternehmen ihren Firmensitz ins größere Auckland verlegten, will Bürgermeisterin Kerry Prendergast jetzt auf „kreatives Kapital“ setzen und Wellington zum „neuseeländischen San Francisco“ machen: einem kulturellen und kulinarischen Mekka, dessen Freizeitangebote die mobilen Eliten der Informationstechnologie wie der Unterhaltungsindustrie anziehen. Zum kreativen Kapital des Inselstaats hat die deutsche Zuwanderung nicht nur das Gärungsverfahren zur Herstellung von Laugenbrezeln beigetragen, wie die Festredner auf Bönisch-Brednichs Buchpremiere betonten. Georg Forster (1754-1794), in Deutschland als glühender Jakobiner und Vaterlandsverräter so berühmt wie verfemt, weil er als deren Abgesandter in die französische Nationalversammlung den Anschluß der „Mainzer Republik“ an Frankreich befürwortete, begleitete von 1772 bis 1775 mit seinem Vater, dem Naturforscher Johann Reinhold Forster, James Cook auf dessen zweiter Weltumsegelung. Sein Reisebericht „A Voyage round the World“ zählt heute zu den meistzitierten Quellen eines nationalen oder doch kolonialen Bewußtseins zwischen Busch und Ozean, Neuer und Alter Welt, Natur und Kultivierung. Weil man es aus 20.000 Kilometern Entfernung mit der europäischen Geschichte nicht so genau nimmt, durfte dann auch auf Karl Popper angestoßen werden, der 1937 nach Christchurch emigrierte, und auf einen zweiten Österreicher der besonderen Art: Friedensreich Hundertwasser gehörte zu den vielen Künstlern, die seit zweihundert Jahren von der Intensität des Lichts und seinem Kontrast zum tiefen Schatten der dichten Wälder schwärmen. Er starb 2000 auf der Rückreise zu seiner neuseeländischen Farm. Als Vermächtnis hinterließ er nicht nur das schönste Örtchen der Welt, die fantasievolle öffentliche Toilette in Kawakawa, sondern auch das Design für eine alternative Landesfahne, die „Koru Flag“ mit der ethnisch angehauchten grünen Woge, ein Dauerrenner in Souvenirläden. Silke Lührmann hat Literaturwissenschaft in Marburg und Yale studiert. Sie arbeitete als Korrektorin bei der JF und schrieb zahlreiche Artikel für den Kulturteil. Im November 2001 wanderte sie nach Neuseeland aus.