Der bevorstehende 50. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR ist Anlaß für alle möglichen politischen, publizistischen und wissenschaftlichen Betrachtungen, obwohl es an entsprechenden Veröffentlichungen dieser Art nicht fehlt. Im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte ist dieses wichtige Ereignis in der Geschichte unseres Volkes unter allen nur denkbaren Aspekten abgehandelt worden; immerhin war der 17. Juni in der alten Bundesrepublik gesetzlicher Feiertag mit einer zentralen Gedenkfeier und zahlreichen Gedenkveranstaltungen. Deshalb stellt sich mit jeder neuen Veröffentlichung die Frage nach weiterführenden Erkenntnissen, die das vorherrschende Meinungsbild über Entstehung, Motive, Verlauf und Konsequenzen dieses Aufstandes bestätigen, erweitern, korrigieren, anders akzentuieren, ihm womöglich in entscheidenden Partien widersprechen. Mit der Publikation des Berliner Historikers und Publizisten Volker Koop liegt ein wissenschaftlich fundierter, publizistisch vorzüglich aufbereiteter Beitrag sowohl zur Vertiefung als auch zur Erweiterung oder zur Korrektur der vorherrschenden Einstellungen zum „17. Juni“ vor. Einer umfangreichen Darstellung des Ablaufes der Ereignisse in den einzelnen Bezirken der DDR folgt eine zusammenfassende Reflexion über das Gesamtgeschehen sowie ein Anhang mit Statistiken und Dokumenten. Koop vermag auf Grund eines umfangreichen Quellenstudiums der Materialien des Innenministeriums und des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR die nicht nur in der DDR, sondern auch im Westen verbreitete These von einer spontanen Reaktion der Bauarbeiter in der Berliner Stalinallee auf die Anordnung der DDR-Regierung zur Normenerhöhung in das Reich der politischen Legenden zu verweisen. Der Protest der Bauarbeiter in der symbolträchtigen Stalinallee hat selbstverständlich eine maßgebende Rolle zum Verständnis des „17. Juni“ gespielt; es hat sich dabei aber allenfalls um den Anlaß, nicht um den eigentlichen Grund des Geschehens gehandelt. Dieser liegt für Koop in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der sow-jetischen Deutschlandpolitik seit 1945, die nicht nur in Berlin, sondern in der gesamten DDR die massenpsychologischen Voraussetzungen eines Aufstandes über die Jahre hinweg anwachsen ließen. Ein zuverlässiger Indikator für diese Entwicklung war unter anderem die ständig wachsende Zahl von Flüchtlingen aus der DDR über die offene Grenze nach West-Berlin; allein in den vier Monaten vor dem Volksaufstand 120.000 Personen, darunter 8.000 Angehörige der sogenannten Kasernierten Volkspolizei und 2.700 Mitglieder der SED. Sowohl in Moskau als auch in Ost-Berlin waren sich die politisch Verantwortlichen der Brisanz dieser Entwicklung vollauf bewußt, vermochten nach Maßgabe ihrer ideologischen Zwangsvorstellungen darauf aber nicht anders zu reagieren als durch den Einsatz militärischer Gewalt. Mit der brutalen Niederschlagung dieses Aufstandes war zwar eine äußere – wir können heute sagen: eine vorläufige – Beruhigung erreicht, aber keine dauerhafte Befriedigung, weil die politischen und gesellschaftlichen Ursachen des Aufstandes fortbestanden und verfestigt wurden. Einige wirtschaftliche und soziale Verbesserungen änderten daran nichts, weil sie nicht den entscheidenden Kern des Problems trafen. Der Bevölkerung der DDR ging es eben nicht in erster Linie um eine Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse – dies natürlich auch! -, sondern um die Beseitigung des politischen und gesellschaftlichen Systems der DDR als notwendige Voraussetzung der Verbesserung ihrer Daseinsbedingungen. Deshalb die unmißverständlichen Forderungen, die nicht nur an einzelnen Brennpunkten des Geschehens, sondern flächendeckend in der gesamten DDR erhoben wurden: Rücktritt der Regierung, Entmachtung der SED, Beseitigung der Zonengrenzen, Freilassung der politischen Gefangenen, freie Wahlen, Abzug der Besatzungstruppen, das heißt der sowjetischen Truppen aus Deutschland. Nur die wenigsten Wortführer der Demonstranten dürften an eine rasche Verwirklichung dieser Forderungen geglaubt haben. Aber mit diesen Forderungen dokumentierten sie den ungebrochenen Willen zur Wiedervereinigung in einer rechtsstaatlichen Demokratie und demaskierten auf diese Weise alle sozialistischen Verheißungen für längere Zeit. Mit der Niederwerfung des Volksaufstandes in Polen und in Ungarn 1956 und dem Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961 bewies die Sowjetunion, daß sie ideologisch nicht willens und politisch nicht fähig war, den offenkundigen Widerspruch zwischen Verheißung und Erfüllung irgendwie anders als durch Gewalt zu lösen. Selbst Reformen, die sich mit der Verbesserung des sozialistischen Modells befaßten, wurden, wie 1968 die Dubcek-Regierung in der Tschechoslowakei, blutig niedergeschlagen. Dabei mißachtete sie allerdings die reichen Erfahrungen der Geschichte, „daß man mit Bajonetten alles Mögliche anstellen kann, nur nicht darauf sitzen“ (Talleyrand). Sie mußte demzufolge stets damit rechnen, daß in einer bestimmten Krisensituation als Reaktion neue Volksaufstände ausbrechen. Als „Kronzeugen“ für diese These führt Koop wiederum das Innenministerium und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR an, die in jedem Jahr aus Anlaß des Gedenktages zum 17. Juni zu höchster Wachsamkeit aufriefen und deren gesamte Arbeit vom Trauma eines neuerlichen Volksaufstandes bestimmt wurde. Insofern war es kein Tag der Niederlage; der 17. Juni hat vielmehr, so das Abschlußurteil Koops, „die SED und damit die DDR-Führung in ihren Grundfesten erschüttert. Vollendet haben die Menschen der DDR den Volksaufstand im November 1989. Dieses Mal blieben die sowjetischen Truppen in ihren Kasernen, womit die Voraussetzungen für einen glücklichen Abschluß des 17. Juni 1953 gegeben war.“ Mit dieser Feststellung weist Koop über „den Tag hinaus“ auf ein bleibendes Vermächtnis des Volksaufstandes zur Bewältigung unserer Gegenwart und Zukunft hin.