Jeder Dresdner fand es in seinem Briefkasten: Einen Aufruf zum Bürgerbegehren „Ja! zum Historischen Neumarkt“. Der Verein Gesellschaft Historischer Neumarkt (GHND) macht Druck. Er fordert ein rechtsverbindliches Gestaltungskonzept für das Areal um die Frauenkirche. Die Einwohner sollen sich entscheiden, ob der Wiederaufbau dieses Platzes sich an der historischen Bebauung vor der Zerstörung 1945 orientieren und die weitgehende Wiederherstellung des Neumarktes nach historischen Maßgaben angestrebt werden soll. Der Neumarkt gilt mit der ihn beherrschenden Frauenkirche als das barocke Herz der Elbmetropole. 1546 angelegt, wurde seine gesamte Bebauung 1945 zerstört, ihre Ruinen abgetragen. Jetzt soll er wieder aufgebaut werden. Über das Wie ist in der Landeshauptstadt ein heißer Disput entbrannt. Denn während die Mehrheit der Dresdner jede bauliche Veränderung an der bis zum 13. Februar 1945 existierenden Architektur orientiert wissen möchte, favorisieren einflußreiche politische Kreise die Realisierung moderner Architektur. Allerdings sind die bisherigen Erfahrungen mit der modernen Architektursprache im Stadtzentrum alles andere als positiv. Von den Neubauten auf dem Altmarkt waren am Ende nicht einmal die Bauherren selbst überzeugt. Und der aus dem Boden gestampfte Verwaltungsneubau neben dem originalgetreu wieder aufgebauten Taschenbergpalais hat vielen Einheimischen ebenso die Sprache verschlagen, wie der modernistische graue Anbau an das rekonstruierte Coselpalais. Rechtzeitig aus den jüngsten Fehlern lernen, hieß daher bereits vor zwei Jahren die Devise der CDU-Stadtratsfraktion angesichts letzterem, für den übrigens kein geringerer als der Dresdner Stararchitekt Walter Kaplan verantwortlich zeichnet. „Wir wollen, daß so viel wie möglich nach altem Vorbild wiederentsteht“, sagte CDU-Sprecherin Eleonore Petermann mit Blick auf die geplante Bebauung des Neumarktes. Sie bekommt dafür Beifall von jenen Einwohnern, die sich das 1945 verbrannte Dresden zurückwünschen. Die Stadt an der Elbe ist auch fast 58 Jahre nach ihrer Zerstörung noch immer auf der Suche nach ihrer im Bombenhagel englischer und amerikanischer Flieger verlorengegangenen Identität. Weite Teile der Innenstadt, etwa die Gegend vom früheren Wettiner Bahnhof bis zum Postplatz und seiner Umgebung präsentieren sich noch heute voller Kriegsnarben. „Das eigentliche Abenteuer, das Dresden zu bestehen hat, heißt immer noch Stadtreparatur“, schrieb der ehemalige Bürgermeister für Stadtentwicklung, der Architekt Gunter Just, einmal in einem Zeitungsbeitrag. Ein Jahrhundertprozeß der Stadtentwicklung müsse wiederholt werden, diesmal auf Jahre, allenfalls auf Jahrzehnte komprimiert. Dresden verfüge über eine betörend schön gebaute Kulisse am Elbufer beiderseits der Augustusbrücke, und jeder Fremde wähne hinter ihr ein analoges städtisches Bild und erwarte auch in anderen Stadtteilen eine ähnlich urbane Dichte. In der Rekonstruktion des alten Neumarktes wird die letzte Chance gesehen, dem Platz an der Frauenkirche den Geist des alten Dresdens einzuhauchen. In seinem bekannten Buch „Das alte Dresden“ beschreibt Fritz Löffler den Neumarkt mit der ihn beherrschenden Frauenkirche als „vielseitigen, locker gegliederten und gewachsenen“ Platz. Seit seiner Zerstörung und der Enttrümmerung entdecken nur sehr aufmerksame Besucher die einstige Gliederung dieses heute weitgehend unbebauten Areals, unter dessen Oberfläche aber noch immer die Keller der einstigen barocken Bürgerhäuser zu finden sind und dessen Parzellierung kurz nach der friedlichen Revolution in einem genialen Schachzug des damaligen Landeskonservators unter Denkmalschutz gestellt wurde. Denn von den einst 300 Parzellen sind heute 135 noch nicht wieder bebaut. Im Mai 1999 gründete sich der Verein Gesellschaft Historischer Neumarkt, dessen Ziel die weitgehend historische Rekonstruktion des Platzes ist, um der Stadt ein Stück ihrer alten Mitte zurückzugeben. Dazu sollen sogenannte Leitbauten, also nach historischem Vorbild weitgehend original rekonstruierte Gebäude, errichtet werden. Deren Zahl ist von geforderten 15 im Jahr 1990 auf derzeit 60 bis 80 gestiegen. Historische Straßenverläufe, Fluchten und Traufhöhen sollen auch bei den übrigen Neubauten beachtet werden. Die Befürwörter des Wiederaufbaus verweisen dabei auf die noch vorhandenen Keller sowie nach dem Krieg geborgene und eingelagerte Fassadenfragmente. Auch Grundrisse, Zeichnungen und Fotos der früheren Bebauung sind ausreichend vorhanden. 1995 wurde schließlich eine Gestaltungssatzung zum Neumarkt verabschiedet. Diese schreibt vor, daß die alten Keller mit einbezogen werden müssen und gibt rechteckige Fenster und gebrochene Putzfassaden vor. Außerdem existiert seit drei Jahren ein Gestaltungsbeirat, in den der Stadtrat neben dem Baubürgermeister auch Kunsthistoriker und Architekten berufen hat. „Die architektonische Aufgabe, die sich im Umkreis der wieder erstehenden Frauenkirche stellt, ist eine Schule des Städtebaus, von der Impulse weit über Dresden hinaus gehen können“, betont der Kunsthistoriker Friedrich Dieckmann. Zur Zeit bieten Freistaat und Bund vier zwischen dem ehemaligen Wettiner Residenzschloß, Stallhof und Verkehrsmuseum (Johanneum) gelegene Grundstücke mit insgesamt 5.350 Quadratmeter Fläche zum Kauf an. Dabei soll die Fassade der Schloßstraße 36a originalgetreu wiederentstehen. Ähnliches wird auch für das um 1680 erbaute Haus des Geheimen Rates Christoph Dietrich von Bose und die benachbarte Rüstkammer sowie das frühere Wohnhaus von Daniel Pöppelmann und das Zechsche Haus verlangt. Restaurants, Cafés, Wohnungen, Hotels, Büros und Geschäfte sollen nach den Vorstellungen der Stadt in die Gebäude einziehen. Auf die kleinteilige Gestaltung der Höfe drängt der Neumarkt-Verein. Gleichzeitig fordert er strengere Vorgaben für die Leitbauten, um Billigkonstruktionen mit Styroporfassaden zu verhindern. Daß auf dem Neumarkt neben den Leitbauten „Gebäude in heutiger Architektursprache“ entstehen, kann sich auch Ex-Bürgermeister Just vorstellen. Was jedoch Mitte Juni das Stuttgarter Architekturbüro Behnisch, Behnisch und Partner den Dresdnern vorschlug, ließ die Gemüter wieder überkochen. Die Pläne des modernen Glaspalastes „spiegeln einfach nur schlechte Architektur der Spaßgesellschaft wider“, empörte sich Lutz Langlotz vom Neumarkt-Verein. Statt Putz und Stein würden bei dem vorliegenden Entwurf Glas und Stahl dominieren und „das unförmige Putzdach ist eine Frechheit“. Der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft Historischer Neumarkt, Fritz Reimann, spricht gar von einem „Gewächshaus“, was das Büro Behnisch geplant habe. Während Stadt und Gestaltungsbeirat das vorgelegte Modell durchaus zusagt, sieht die Bürgerinitiative darin einen eklatanten Verstoß gegen die Gestaltungssatzung und befürchtet, daß ein Präzedenzfall für weitere Investoren geschaffen wird, die dann auch auf Rekonstruktionen verzichten könnten. Das sieht auch Uwe Gabler so, der mit seiner Firma VVK neben der Frauenkirche sieben Häuser mit historischen Fassaden errichten will. Glas und Stahl kann sich Gabler am Neumarkt nicht vorstellen. Das von Behnisch Geplante sei ein Skandal. Dieser wiederum stellt die Frage, ob Dresden sich im 17. und 18. Jahrhundert konservieren oder in die Zukunft gehen wolle. Schließlich würden heute ja auch keine alten VW Käfer aus Glasfieber gebaut. Bei den Dresdnern stößt er mit diesen Argumenten jedoch auf breite Ablehnung. Für anspruchsvolle moderne Architektur sei auf der Prager Straße oder dem Altmarkt Platz genug. Wer nach Dresden komme, wolle nicht die Gebäude des 21. Jahrhunderts sehen, sondern sei begeistert von allem, was im alten Stil wiedererstanden ist, schrieb beispielsweise die in Dresden aufgewachsene Erika Haringer aus Ford Laderdale/USA: „Moderne Gebäude in diesem Areal stoßen ab. Sie tun regelrecht weh, wenn man sie da entdeckt.“ Bei der Stadtführung finden solche Ansichten aber immer weniger Gehör. Deswegen wurde der Ruf nach einem Bürgerentscheid über die Art und Weise der Bebauung des Neumarktes auch immer lauter. Inzwischen haben die Investoren Arturo Prisco und Kai von Döring einen Architektenwettbewerb für das Areal am früheren Hilton-Parkplatz ausgelobt, an dem sich letztlich 20 Architektur-Büros beteiligten. Dabei sollen zwei Drittel der Häuser in ein historisches Gewand gekleidet werden. Bei den übrigen soll eine Symbiose aus historisch-adaptierter und zeitgemäßer Architektur angewandt werden. Parallel mobilisiert der Neumarkt-Verein die Dresdner mit einer Unterschriftenaktion für einen Bürgerentscheid. Von der „allerletzten Chance zur Rückgewinnung eines ganz wichtigen Teils der Dresdner Identität“ spricht Nobelpreisträger Günter Blobel. Wenn um die Frauenkirche herum moderne Glasbauten entstehen, werde sie nur ein Solitär sein. Inzwischen drängt die Zeit. Die Weihe der täglich in die Höhe wachsenden Frauenkirche ist für 2005 vorgesehen. Deswegen hoffen die ersten Investoren, spätestens im Sommer 2003 mit dem Bauen beginnen zu dürfen. Sie rechnen mit einer Bauzeit von anderthalb Jahren. Rechtzeitig zur 800-Jahr-Feier Dresdens soll der Neumarkt dann im alten Glanz erstrahlen und dabei möglichst wenig sichtbare Spuren des 21. Jahrhunderts tragen. Foto: Modell der Neumarkt-Bebauung: Moderne Gebäude stoßen ab Weitere Informationen zum Thema im Internet unter www.neumarkt-dresden.de