Der Erfolg von Günter de Bruyns Büchern widerlegt die These, das geschichtliche Interesse in Deutschland sei auf eine Kurzzeitperspektive geschrumpft. Was für die veröffentlichte Meinung gelten mag, trifft auf das breite Publikum noch lange nicht zu. Dessen Bedürfnisse und Vorlieben sind viel weiter gespannt. De Bruyns Essay „Preußens Luise“ wurde 2001 in sechsstelliger Zahl verkauft, und auch sein neuestes Buch „Unter den Linden“ klettert auf den Bestsellerlisten unaufhaltsam nach oben. „Unter den Linden“ heißt die berühmteste Straße Berlins, ja ganz Deutschlands. Der Name überdauerte alle Systeme und Regimes, was eine hierzulande seltene Kontinuität darstellt. Wer „Hauptstadt“ sagt, denkt vor allem an diese 1,4 Kilometer lange Meile, die im Osten auf der Höhe von Schloßplatz und Lustgarten beginnt und im Westen am Pariser Platz und dem Brandenburger Tor endet. Ohne diese Straße wäre Berlin kaum mehr als ein Flickenteppich von Klein- und Mittelstädten, erst die „Linden“ binden sie symbolisch zusammen. Die symbolische Bedeutung gilt auch im Ausland. Die Franzosen haben eben ihre neue Botschaft auf einem Areal am Pariser Platz errichtet, auf dem schon die alte, im Zweiten Weltkrieg zerstörte Vertretung gestanden hatte. Die Briten hielten es mit ihrer Botschaft gleich um die Ecke in der Wilhelmstraße ebenso. Und auch die Amerikaner haben, trotz jahrelangen Gezerres zwischen Sicherheitsexpertenen und Stadtplanern, am angestammten Vorzugsplatz beim Brandenburger Tor festgehalten. Der russische Zar hatte bereits 1837 das Kurländische Palais am westlichen Ende der Straße gekauft. Auf dessen Kriegstrümmern errichtete die sowjetische Siegermacht einen stalinistischen Palast, der sich über sieben Grundstücke ausbreitet. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite teilte die DDR den „Bruderstaaten“ Polen und Ungarn zwei Filetgrundstücke zu, die diese nach 1989 verständlicherweise behalten wollten. Diese Aufzählung macht allerdings auch klar, wie eng Kontinuität und Brüche ineinander verschlungen sind. Auch im östlichen Teil, wo die bekanntesten und kulturhistorisch wertvollsten Bauten stehen – das von Andreas Schlüter errichtete Zeughaus, welches heute das Deutsche Historische Museum beherbergt, Knobelsdorffs Lindenoper, Schinkels Neue Wache unter anderen -, ist kaum ein Haus noch wirklich historisch, sondern bestenfalls ein Wiederaufbau. Andere Häuser verleugnen ihre Herkunft aus der reglementierten Moderne gar nicht erst. Das Schloß, von dem die Straße nach dem Dreißigjährigen Krieg als ein mit Linden- und Nußbäumen bepflanzter Jagd- und Reitweg ihren Ausgang nahm, ist sogar ganz verschwunden. Den östlichen Teil der Straße hat vor allem Friedrich II. mit dem „Forum Fridericianum“, zu dem unter anderem die Oper, die Alte Bibliothek („Kommode“) und das heute zur Humboldt-Universität gehörende Palais für seinen Bruder Heinrich zählen, wesentlich geprägt. Die beste, glücklichste Zeit für die Straße war gewiß das königlich-preußische 19. Jahrhundert. „Centralpunkt der eleganten Welt“ wurden die Linden in einem Konversationslexikon von 1834 genannt. Damals waren sie eine Wohn- und Geschäftsstraße, vor allem aber ein Boulevard zum Flanieren mit Cafes, Hotels, Konditoreien, Buchläden, Luxusgeschäften – eine Bühne zur Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft. Im neuen Kaiserreich wurden die Bauten „größer, aber nicht schöner“. So manches der bescheidenen, aber eleganten Stadthäuser mußten Platz machen für protzige Gründerzeitbauten. Der Schinkeldom wurde für ein wilhelminisches Monstrum abgerissen, welches heute freilich fast nostalgisch wirkt. Für das neue Adlon-Hotel mußte 1906 ein Schinkelsches Palais weichen. Neuer Reichtum und die Repräsentationsbedürfnisse einer Großmacht sprengten die preußischen Dimensionen. Was heute als Bausünde und ästhetische Nivellierung empfunden wird, geht überwiegend, aber nicht ausschließlich auf die Kriegszerstörungen zurück. Die DDR wollte sich diese Straße einverleiben, sie war ihr aber nicht geheuer. Weil sie direkt auf die Sektorengrenze zulief, war sie für offizielle Anlässe nur eingeschränkt nutzbar. Das Schloß wurde gesprengt, andere Bauten hingegen – darunter die Oper, das Kronprinzen- und das Prinzessinenpalais – mühevoll hergerichtet. In den achtziger Jahren wurde auch die Reiterstatue Friedrich II. wieder auf den verwaisten Denkmalssockel gesetzt, als der Staat, der nie aufgehört hatte, in allen Fugen zu krachen, sich eine breitere historische Legitimation verschaffen wollte. In der Straße fließen politische Kultur- und Geistesgeschichte, Lokal-, National- und Welthistorie in faszinierender Weise zusammen. Günter de Bruyn, geboren 1926, hatte schon zu DDR-Zeiten eine Vorliebe für preußische und märkische Themen. Nun, da er keine Romane mehr schreibt und die Memoiren ebenfalls vollendet sind, ist die preußische Geschichte zur Altersprofession geworden. Er erzählt schnörkellos und in klaren Linien. Natürlich hat er alles Nötige gelesen, E.T.A. Hoffmann, Fontane, Varnhagen van Ense bis hin zu den Tagebüchern der Journalistin Ursula von Kardorff, eine der wichtigsten Berliner Chronistinnen im Zweiten Weltkrieg. Zwei Büchern ist er in besonderer Weise verpflichtet: Den „Briefen aus Berlin“ von Heinrich Heine, auf dessen Spuren er den Erkundungsgang beim Schloßplatz in Richtung Westen beginnt, und dem „Flaneur in Berlin“ von Franz Hessel, dem er manchmal bis in die Formulierungen hinein folgt, ohne deshalb den Ehrgeiz zu haben, mit Hessels psychologisierenden und mythisierenden Assoziationen zu konkurrieren. Der Leser wird gut informiert, unterhalten und von überraschenden Einsichten verschont. De Bruyns Parlando über die Furien des Verschwindens klingt gedämpft, wie auch die Kritik am Gigantismus des Holocaust-Denkmals. Er kennt sich gut im 18. und 19., weniger gründlich im 20. Jahrhundert aus. Im Kurländischen Palais wohnte zeitweilig Prinzessin Amalie, die Schwester Friedrich II., was dem Autor Gelegenheit gibt, ihre heftige, unglückliche Affäre mit dem Freiherrn von Trenck zu erzählen. Von der interessanten Geschichte der sowjetischen Botschaft, die in den zwanziger Jahren ein gesellschaftlicher Mittelpunkt war (der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat das in dem ebenfalls bei Siedler erschienenen Buch „Berlin. Ostbahnhof Europas“ kenntnisreich dargestellt) aber teilt er fast gar nichts mit. Eine etwas sentimentale Gewichtung! Die Pläne, die Straße Unter den Linden als Boulevard neu zu beleben, wirft eine Menge neuer Fragen auf. Die Linden sind heute eine vielbefahrene, nervöse Straße mit einem breiten Fußgängerstreifen in der Mitte, die von vier mickrigen Baumreihen gesäumt wird. Ist der Flaneur, an den die Stadtplaner jetzt wieder appellieren, noch zeitgemäß, und sind die Touristen, die heute hier entlangströmen, zu einer Stadtlektüre à la Hessel überhaupt in der Lage? Welche geschichtliche, kulturelle und soziale Grammatik soll hier gelesen werden, wo doch soviel authentische Bausubstanz zerstört wurde und an die Stelle des sozialen Rollenspiels die dumpfe Evidenz der globalen Touristenströme getreten ist? Am Pariser Platz haben sich, außer den Botschaften, prominente Bankhäuser niedergelassen und zeigen ihre Macht. Aber selbst die ist neuerdings nicht mehr unangefochten. Für die neuen Bürobauten des Bundestages wurde viel demokratisches Glas verwendet, aber weiß der Wahlbürger deshalb tatsächlich, was hinter den transparenten Wänden geschieht? Der Wiederaufbau des Schlosses ist vom Bundestag beschlossen worden, irgendwann werden die „Linden“ und die Stadtmitte wieder einen architektonischen Bezugspunkt haben, doch was wird er enthalten und vermitteln? Angedacht ist ein Ethnographisches Museum, aber sind die von Weltreisenden und Kolonialisten zusammengerafften exotischen Exponate ein angemessener Inhalt für die Neue Mitte der Stadt und des Landes? So viele Fragen, auf die auch de Bruyn keine Antwort gibt. Wenn er sie gestellt hätte, wäre das Buch viermal so umfangreich und gewiß kein Verkaufserfolg geworden. Günter de Bruyn: Unter den Linden. Siedler Verlag, Berlin 2002, gebunden, 176 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 18 Euro
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