Nicht nur die großen Veranstaltungen und Prominentenempfänge in München, Düsseldorf, Berlin, Leipzig oder Frankfurt prägen das Gesicht der Veranstaltungsreihe „Deutsch-russische Kulturbegegnungen 2003/2004“, die im Februar durch die Präsidenten beider Länder feierlich eröffnet wurde. Einen überaus interessanten Bestandteil bildet eine Ausstellung unter dem Titel „Die Zarin und der Teufel“, die noch bis zum 18. Mai in den Franckeschen Stiftungen zu Halle/Saale besichtigt werden kann. Anhand zahlreicher Blätter zur Politik-, Militär-, Kultur- und Religionsgeschichte Rußlands aus der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erhält der Besucher einen Einblick in das Wechselspiel verbindender und trennender Elemente zwischen russischer und (west-) europäischer Tradition. Die Zusammenstellung von Stücken sowohl russischer als auch französischer und britischer Herkunft ermöglicht es, einen interessanten Vergleich zwischen der Eigen- und Fremdwahrnehmung des russischen Staates und seiner führenden Vertreter zu ziehen. Erstmals zusammengetragen wurden die derzeit präsentierten Objekte von Dmitrij Alexandrowitsch Rovinskij (1824-1895), der sie seit Anfang der achtziger Jahre in Form von Faksimiles einem kleinen Interessentenkreis zugänglich machte. Er war einer derjenigen Juristen und Reformer, die großen Anteil an der Verkündigung des Manifestes vom 5. März 1861 von Zar Alexander II. zur Abschaffung der Leibeigenschaft hatten. 1868 wurde er Präsident des Moskauer Kammergerichtes und 1870 Senator des Kassationsdepartements für Strafsachen; einen Posten, den er bis kurz vor seinem Tod bekleidete. Besondere Verdienste erwarb sich Rovinskij auch auf dem Gebiet der Kunst. Auf zahlreichen Reisen trug er Stücke mit besonderem Bezug zur russischen Kunst- und Nationalgeschichte zusammen. 1872 erschien sein „Lexikon der russischen Porträtstiche“, das 1886 nach der Erweiterung 10.000 Blätter und 2000 Personen dokumentierte und beschrieb. Seit Beginn der 1880er Jahre begann er die Herausgabe der „Materialien für eine russische Ikonographie“, die am Ende insgesamt zwölf Mappen mit 480 Blättern umfaßte. Heute sind von diesen „Materialien“ nur noch zwei komplette Exemplare bekannt. Eines befindet sich in St. Petersburg und das zweite in Halle. Erst vor wenigen Jahren konnte mit finanzieller Unterstützung der dortigen Stiftung der Stadt- und Saalkreissparkasse der Ankauf der Rovinskij-Sammlung ermöglicht werden. Etwa ein Viertel aller Objekte aus den „Materialien“ sind jetzt im Rahmen der Ausstellung zu besichtigen. In ihnen manifestiert sich besonders deutlich das besondere Spannungsverhältnis, welches die russische Geschichte seit jeher geprägt hat: die Funktion als östlichster Vorposten gegenüber dem Orient und zugleich die Rolle als europäische Großmacht, die aktiv die Geschicke des Kontinents mitbestimmen und -gestalten will. Es ist daher kaum verwunderlich, daß auch das (west-)europäische Rußlandbild bis heute von dieser Spannung zwischen Bewunderung und Abstand geprägt ist. Im ersten Teil der Ausstellung mit dem Titel „Adler“ kann sich der Betrachter einen Überblick über berühmte Persönlichkeiten der russischen Geschichte vom 16. bis 19. Jahrhunderts verschaffen. Interessante Darstellungen von Herrscherpersönlichkeiten wie Zar Feodor, dem letzten russischen Herrscher aus dem Geschlecht der Rurikiden, über Peter den Großen und Katharina II. bis zum Nationaldichter Puschkin unterstreichen die erhebliche Bandbreite der Ausstellungsobjekte. Gestalten wie der Bauernrebell Stepan Rasin, zunächst Führer der Donkosaken gegen Krimtataren und Türken, oder Fürst Peter Ivanovic Potemkin, der die Gewährung besonderer Ehrfurchtsbezeugungen westeuropäischer Herrscher vor den Vertretern des russischen Zaren durchsetzte, zeigen sowohl die große Bedeutung machtvoller Persönlichkeiten in der russischen Geschichte, aber auch die durch sie eng gesteckten Grenzen, was interessante Parallelen bis in die heutige Zeit offenbart. Der Wille, mit dem Fortschritt in Europa Schritt zu halten, wird in der Ausstellung unter anderem durch Andrej Denisovic Winius, einen gebürtigen Holländer, der mit Hilfe der russischen Regierung die erste Eisengießerei Rußlands in der Nähe von Tula errichtete und damit das Land vom Import schwedischen Stahls unabhängig machte, ebenso symbolisiert, wie durch Baron Aleksandr Sergeevic Stroganow, einem deutschen Reichsgraf, seit 1798 Präsident der St. Petersburger Akademie der Künste, oder den Berliner Kupferstecher Georg Friedrich Schmidt, von 1757 bis 1762 Professor für Porträtkupfer an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. Der zweite Teil der Ausstellung, „Seraph“, enthält Darstellungen geistlicher Führer, der Patriarchen und ihrer Konflikte um die Verwaltung des oströmischen Erbes. Der dritte Abschnitt „Schlange“ widmet sich dem Themenkreis Bildung und Aufklärung. In den Bemühungen um eine breitere Kenntnis von Lese- und Schreibfertigkeiten oder dem Kampf gegen verbreitete Krankheiten wie Pocken zeigt sich das Wechselspiel zwischen Autorität und Selbstverantwortung, einem ständigen inneren Konfliktfeld. Die zwei weiteren Teile „Hahn und Henne“ sowie „Bär und Boney“ setzen sich vorzugsweise aus englischen und französischen Karikaturen des frühen 19. Jahrhunderts zusammen, die einen Eindruck von der äußeren Wahrnehmung Rußlands und seiner Herrscher vermitteln. Gerade vor dem Hintergrund militärischer Konfliktsituationen ist das stete Schwanken zwischen Bewunderung und Abscheu, das sich in den Blättern offenbart, bezeichnend für ein Land, dem heute oft vergleichbare Gefühle entgegengebracht werden. So können die Symbole eines Staates, der – wie es bereits der Titel zum Ausdruck bringt – einerseits Kontakt mit dem Teufel pflegt, doch es sich andererseits erlauben kann, „Boney“, die aus England stammende Witzfigur von Napoleon, als Ball beim Fußballspiel zu benutzen, praktisch auch nur Adler und Bär sein. Kraft und Macht, Brutalität und Unbeholfenheit sind die Synonyme, die sich mit dem europäischen Rußlandbild bis heute verbinden. Nicht zuletzt bietet die Ausstellung damit auch einen Anlaß, über die Berechtigung solcher Stereotype nachzudenken. Gelungen ist die Verbindung von historischem Wissen mit der Lust an der Betrachtung von seltenen Stichen und Karikaturen. Eine sehr gute Ergänzung bildet der reich ausgestattete Katalog, der auch jedem, der die Ausstellung nicht besuchen kann, zu empfehlen ist. Fotos: Peter der Große (1716): Vater des Vaterlandes, Katharina II. (1762): Kaiserin von Rußland, „Königin Katharinas Traum“: Englisches Satireblatt, London bei William Holland, 4. November 1791 Die Ausstellung „Die Zarin und der Teufel. Europäische Rußlandbilder aus vier Jahrhunderten“ ist noch bis zum 18. Mai täglich von 10 bis 17 Uhr im Haupthaus der Franckeschen Stiftungen, Franckeplatz 1, Halle an der Saale, zu sehen. Info: 03 45 / 2 12 74 05
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