Den unzähligen Deutschen, die allwinterlich der nördlichen Hemisphäre den Rücken kehren, um sich am Milford Sound durchnässen zu lassen (dort regnet es im Durchschnitt 330 Tage im Jahr) oder das ewige Eis des Franz-Josef-Gletschers zu bestaunen, muß Neuseeland ein Puzzle bleiben, dessen Stücke nicht zusammenpassen. Als Urlauber wird man bei jedem Einkauf von der freundlichen Kassiererin zu einem Glaubensbekenntnis genötigt. „Und – wie gefällt es euch hier? Ist Neuseeland nicht das wunderschönste Land der Welt?“ fragt sie mit strahlendem Lächeln. Als Neueinwanderer wird man schon bei der Paßkontrolle ebenso herzlich empfangen: „Willkommen in Ihrer neuen Heimat!“ Das befürchtete Kreuzverhör, dem man sich nach 26 Stunden im Flugzeug nicht mehr gewachsen fühlt, bleibt aus. Nur der Zoll nimmt alle Reisenden gleichermaßen streng ins Gebet. Auf die versuchte Einfuhr von Lebensmitteln stehen hohe Geldstrafen; Zelte und dreckige Wanderschuhe werden desinfiziert, bevor sie neuseeländischen Boden betreten dürfen: Gegen eine Überfremdung seiner Flora und Fauna wehrt sich der kleine Agrarstaat mit allen Mitteln. Ende Januar machte eine australische Mücke Schlagzeilen, der es um ein Haar gelungen wäre, sich an Bord einer leeren Maschine einzuschmuggeln, die zur Wartung nach Christchurch geflogen wurde. Während man in Deutschland meint, ein gesundes Nationalbewußtsein mit einer gesunden Prise Mißtrauen gegenüber Fremden und Fremdem salzen zu müssen, sind die Neuseeländer so stolz auf ihr Land, daß sie es mit allen teilen möchten, die nicht das Glück hatten, in „God’s Own“ – gesprochen godzone: die Gottzone – auf die Welt gekommen zu sein. Mit allen? Natürlich nicht wirklich. Auch hier schwelen kulturkämpferische Konflikte. Besonders groß ist die Feindseligkeit gegenüber den asiatischen Investoren, die glauben, Gottes Eigentum Stück für Stück aufkaufen zu können. Geschäfte und Unternehmen brüsten sich, „Kiwi owned and operated“ zu sein. Die vielen Badeunfälle der letzten Wochen, die dem Tourismus empfindlich zu schaden drohen, führt die Lebensrettungsgesellschaft unter anderem darauf zurück, daß „Neu-Neuseeländer“ keinen angeborenen Respekt vor dem Ozean haben, englische Schilder nicht lesen können oder sich gar in ihren „ethnischen Gewändern, die sich im Wasser aufblähen wie Segel“ in die Fluten begeben. Auch hier ist 2002 ein Wahljahr, und Premierministerin Helen Clark muß sich mit Bill English, dem Kandidaten der konservativen National Party, um eine Erhöhung der Flüchtlingsquote von derzeit 750 pro Jahr streiten, nachdem ihre „zu nachgiebige“ Haltung bezüglich der „Tampa“-Passagiere schon ins Kreuzfeuer australischer Kritik geraten ist. (124 der 131 Schiffbrüchigen, die Neuseeland im September 2001 aufnahm, haben inzwischen Bleiberecht erhalten.) Die Vorsitzende der dritten Kraft im Lande, die Partei Act, möchte das Kontingent auf Bewerber aus „regnerischen Regionen“ – nicht etwa „Wüstengebieten wie Somalia“ – beschränken, die sich „besser akklimatisieren“. Die Positionen und Argumente sind aus der Alten Welt wohlbekannt: die vor Mitleid überlaufenden Herzen, die Appelle an das schlechte Gewissen und bessere Selbst der Wohlstandsgesellschaft auf der einen Seite; die verständliche, aber übertriebene Sorge um den eigenen Lebensstandard auf der anderen. Die neuseeländische Einwanderungsbehörde beruft sich noch heute auf den Vertrag von Waitangi, der 1840 zwischen dem Leutnant-Gouverneur William Hobson und insgesamt über 500 Maori-Stammeshäuptlingen geschlossen wurde. Seit der Unabhängigkeit 1947 nie vom Parlament ratifiziert, verschreibt er als Patentrezept friedlichen Zusammenlebens eine Leitkultur – und zwar nicht die der Einheimischen (oder zumindest zuerst Angekommenen: die Maori stammen ursprünglich aus dem polynesischen Raum und siedelten sich um 900 n. Chr. auf den Inseln an, die sie „Aotearoa“ nannten, „Land der langen weißen Wolke“). In ihrem Bestreben, „die Rechte und das Eigentum der Eingeborenen zu schützen und zu gewährleisten, daß sie in den Genuß von Frieden und Ordnung kommen“, heißt es im Vertragstext, erachtet Ihre Majestät Königin Victoria „es für nötig, infolge der hohen Anzahl Ihrer königlichen Untertanen, die sich bereits in Neuseeland niedergelassen haben, und der rapide anwachsenden Zuwanderung aus Europa und Australien … mit den Eingeborenen die Anerkennung Ihrer souveränen Herrschaft über diese Inseln oder einen Teil davon zu verhandeln. Ihre Majestät ist bestrebt, eine permanente Zivilregierung zu etablieren, um die üblen Folgen abzuwenden, die die Abwesenheit der notwendigen Gesetze und Institutionen für die eingeborene Bevölkerung wie für Ihre Untertanen nach sich ziehen muß“. Im Austausch für ihre politische Souveränität sicherte die Krone den Maori angestammte Land- und Fischereirechte zu. Für Klagen ist ein 1994 eingerichtetes Schiedgericht, das „Waitangi Tribunal“, zuständig. Der Jahrestag der Vertragsunterzeichnung am 6. Februar wird landesweit groß gefeiert: mit „Waitangi Day Sales“ – Sonderangeboten, die sich nahtlos an den Jahres- und den Sommerschlußverkauf reihen – und Zeremonien auf den Maraes, den traditionellen Versammlungsstätten der Maori. Die Frage, wo sich Clark und English sehen ließen, um unter den Maori, die 13 Prozent ihrer politischen Kundschaft ausmachen (Tendenz steigend), Sympathien zu ertrotzen, wurde heftig diskutiert. Kurz darauf, vom 22. Februar bis 17. März, ging das diesjährige „New Zealand Festival“ über die Bühne, mit dem das Land sich selber feiert, das aber zugleich als Anlaß dient, internationale Berühmtheiten auf die Unterseite der Erdkugel zu locken. „Kunst als Touristenattraktion“, warnt der Choreograph Douglas Wright, dessen – wegen angekündigter Nacktszenen umstrittenes – Ballett „Inland“ der Staat mit 80.000 Dollar (37.600 Euro) fördert. Um die Hauptstadt Wellington konzentriert erfreuen Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Theater- und Opernaufführungen, Klassik und Pop das kultivierte Kosmopolitenherz. Die Liste der Sponsoren liest sich wie ein Markenverzeichnis: Von Heineken bis Saatchi & Saatchi und Visa ist einiges vertreten, was auf dem Weltmarkt Rang und Namen hat. Neben Veranstaltungen mit ausgeprägtem Lokal-, wenn nicht folkloristischem Charakter – „Writers in Otaki“ findet in der Memorial Hall (Kriegsgedenkstätte, die auch zu kulturellen Zwecken genutzt wird) des winzigen Küstenortes Otaki statt, der ganze zwei Schriftsteller aufweisen kann – bietet der literarische Teil des Festivals Koryphäen wie den Altmeister und (fast) letzten Mohikaner der postmodernen Avantgarde William Gass, den englischem Stilvirtuosen Jim Crace oder Susan Sontag, seit nunmehr vier Jahrzehnten Fackelträgerin der New Yorker Intelligenzija. Das Musikprogramm serviert exotische Leckerbissen aus Kroatien und Kuba sowie bodenständigere, auf heimischem Schafmist gewachsene Kost. In einer Fernsehwerbung für das Festival kommt ein Kiwi verspätet ins Theater und klettert umständlich über Sitze und Rückenlehnen. Der unansehnliche erdbraune flügellose Vogel hat sich festlich herausgeputzt und wischt seinen prächtigen Fasanenschwanz der Premierministerin durchs Gesicht, als er seinen Platz an ihrer Seite einnimmt. „Hallo, Premierministerin“, begrüßt er sie. „Schön, Sie wiederzusehen!“ „Blödes Wahrzeichen“, seufzt Clark (die ihrerseits aussieht, als besuche sie denselben Friseur wie Angela Merkel, wäre dies nicht geographisch unwahrscheinlich). So präsentiert sich, gewiß, eine Regierungschefin, die auf Wiederwahl hofft – den Meinungsforschern zufolge liegt Clarks Labour-Partei momentan mit 48 Prozent Zustimmung weit vor National (29 Prozent). So präsentiert sich aber auch ein Land, das mit sich weitgehend im reinen ist, weder unter Minderwertigkeitskomplexen noch unter Größenwahnsinn leidet. Weltoffenheit wird zugleich als Standortvorteil und als Exportgut angepriesen, wie eine andere Reklame vorführt: Die New Zealand Post verkaufe ihr „vorwärtsgewandtes Denken“ inzwischen weltweit, heißt es da: „Neuseeländer, habt keine Angst vor der Zukunft – seht lieber zu, daß sie sich hier ereignet!“ So stolz man auf Peter Jacksons „Herrn der Ringe“ ist, die Vision, die hier entworfen wird, macht deutlich: Das Neuseeland von morgen soll eher der dystopischen „Blade Runner“-Kulisse ähneln. Als Elisabeth II. im letzten Monat ihren Untertanen in der ehemaligen britischen Kolonie einen Besuch abstattete, wollte Clark – die selber die Monarchie „absurd“ spottet – der Königin „nicht Englands Bauernhof, sondern eine Nation des 21. Jahrhunderts“ zeigen. Himmelschreiende Städte statt blühender Landschaften – seit dem letzten Turmfall zu Babel ist kaum ein halbes Jahr vergangen. Filmszene aus Peter Jacksons „Der Herr der Ringe, gedreht in Neuseeland“: Der kleine Agrarstaat wehrt sich gegen eine Überfremdung seiner Flora und Fauna mit allen Mittel Silke Lührmann hat Literaturwissenschaft in Marburg und Yake studiert. Von Ende 1998 bis Oktober 2001arbeitete sie als Korrektorin bei der JF und verfaßte zahlreiche Artikel für den Kulturteil. Vor einem halben Jahr wanderte sie nach Neuseeland aus.
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