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Trotz seiner bestechenden Einfachheit ist das libertäre Recht nicht einfach zu verstehen. Dies wurde mir angesichts der zahlreichen Kommentare deutlich, die meine Kolumne zum Thema „Naturrecht gegen Tyrannei“ sowohl im englischsprachigen Original wie auch in der deutschen Übersetzung ausgelöst hat. Einige der klügsten, vielseitig gebildeten Leser, die sich eine Publizistin wünschen könnte, ließen sich von der Propagandalüge ins Bockshorn jagen, Eric Garner habe gegen irgendeinen heiligen Gesellschaftsvertrag verstoßen, indem er sich erstens dem Willen des Herrschers nicht fügte und diesen Willen zweitens zu hinterfragen wagte.
Ein kleiner Straßenhändler wird von einem Polizisten umgebracht, weil er an einer New Yorker Straßenecke einzelne Zigaretten verhökert. Doch die Anwendung des libertären Gesetzes auf den Fall Eric Garner verwirrte einige Leser dermaßen, daß sie unter Mißachtung der Beweislage darauf bestanden, Garner habe seinen Tod durch „zivilen Ungehorsam“ selbst herbeigeführt.
„Ich würde jederzeit Menschen applaudieren, die sich wahrhaft unmoralischen Gesetzen widersetzen (wenn ihnen etwa befohlen wird, jemanden zu foltern)“, hieß es ausweichend in einem Kommentar. „Ich würde mich jedoch hüten, einen massiven zivilen Ungehorsam gegen kleinkarierte, aber belanglose Vorschriften zu propagieren. Denn damit läuft man bloß Gefahr, eine verstärkte staatliche Drangsalierung zu provozieren, um ‚Recht und Ordnung‘ wiederherzustellen.“
Der Baum der Freiheit
Ja, die arme Sau, die es wagte, ein paar lose Zigaretten zu erwerben und zu veräußern, hat „massiven zivilen Ungehorsam“ begangen. Aus Angst vor der Rache des Machthabers fühlten sich einige seiner Mitbürger berufen, darüber zu diskutieren, wie weit Garner dabei gehen durfte. Hat er seine Stimme allzu lautstark erhoben? Hat er zu heftig mit den Armen gefuchtelt? Dies sind alles keine prinzipiellen, sondern utilitaristische Erwägungen.
Andere Leser fühlten sich im Zwiespalt zwischen meinem Urteil – Garner ist ein unschuldiger Akteur in der brutalen Gewaltinszenierung des Machthabers – und der Gegenthese, der zufolge Garner einer staatsbürgerlichen Verpflichtung unterlag, sich den willkürlichen Verfügungen seines Oberherrs zu beugen. Durch seine Weigerung, ebendies zu tun, habe Garner sein Ende selber provoziert. Wo gibt es hier bitte schön einen „Zwiespalt“, an dem sich die Geister scheiden könnten? Am Recht eines Mannes, mit ein paar Kippen in der Hand auf dem Bürgersteig zu stehen und am Leben zu bleiben?
Mit meiner Aussage, Garner sei nach dem Naturrecht unschuldig, machte ich mich – so wollte man mir jedenfalls weismachen – der Behauptung schuldig, er habe keine moralische Verpflichtung gehabt, dem vom Staat erlassenen positiven Recht Folge zu leisten. Weh mir – und wehe jenem Halunken Thomas Jefferson, der mahnte: „Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen erneuert werden.“
Verstoß gegen das Naturrecht
Hier liegt der Hase im Pfeffer des libertären Rechts: Wir haben alle unsere eigenen Vorstellungen davon, was moralisch und unmoralisch ist. Der Libertarismus hat keine. Der Libertarismus sagt kein einziges Wort zum Thema Moral als solcher. Wenn libertäre Denker sagen, eine Handlung verstoße gegen das Naturrecht, dann meinen sie damit ganz genau folgendes: A begeht ohne vorherige Provokation eine Aggression gegen B oder dessen rechtmäßig erworbenes Eigentum. Sonst nichts!
Das libertäre Recht hat mit ethischen Fragen rund um die Anwendung von Gewalt zu tun. Alles andere fällt außerhalb seiner Zuständigkeit. Die Grundlage des Libertarismus ist das Nichtaggressionsprinzip. Dieses besagt schlicht und ergreifend, daß jeder Mensch das Recht hat, zu tun, was er will, solange er keine Gewalt gegen eine andere Person oder deren rechtmäßiges Eigentum begeht (oder androht). Daraus folgt, so der Ökonom Walter Block, „daß in einer freien Gesellschaft jeder das Recht hat, Güter oder Dienstleistungen aller Art zu gegenseitig vereinbarten Bedingungen herzustellen, zu kaufen oder zu verkaufen. Demnach gäbe es keine Verbote gegen opferlose Verbrechen, Preiskontrollen, staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft usw.“
Noch im 19. Jahrhundert war dieser Grundsatz ein selbstverständlicher Bestandteil einer liberalen Weltanschauung. Daß das Naturrecht den meisten vernünftigen Menschen noch heute unmittelbar einleuchtet, zeigte eine Umfrage im Auftrag von USA Today, der zufolge „fast drei Viertel der Amerikaner“ die Polizei für Eric Garners Tod verantwortlich machen.
In moralischen Kategorien verhaftet
Unmoralisch ist nicht unbedingt gleich gesetzwidrig und umgekehrt. Man könnte argumentieren, es sei unmoralisch, eine Vorzugsbehandlung bestimmter Arbeitnehmer auf der Basis des Melaninanteils in ihrer Haut gesetzlich festzuschreiben. Und doch gibt es in den USA Bezirke, in denen solche Quotenregelungen vollkommen legal sind. Im Gegensatz dazu ist absolut nichts Unmoralisches daran, einen Artikel aus dem eigenen Besitz zu verkaufen. Trotzdem verstieß Garner gegen das Gesetz, indem er sein moralisches Recht wahrnahm, mit seinem Eigentum zu handeln.
Es gibt Libertäre, die Abtreibung auf der Basis des Nichtaggressionsprinzips für zulässig erklären: Der Körper einer Frau sei ihr Eigentum, und sie habe das Recht, ein unerwünschtes Objekt daraus zu entfernen. Sie dafür zu bestrafen, daß sie nach Belieben über ihren eigenen Körper verfügt, sei aus libertärer Sicht selbst dann falsch, wenn man Abtreibung für unmoralisch hält. Andere Naturrechtler widersprechen mit dem Argument, Abtreibung sei eine Aggression gegen ein Lebewesen, das seinerseits keine Aggression begangen habe.
Solche Debatten bleiben in moralischen Kategorien verhaftet. Im Kern geht es jedoch immer darum, was in einer wahrhaftig freien Gesellschaft zulässig oder rechtswidrig wäre: Kann es auf der Grundlage des Nichtaggressionsprinzips legitim sein, mit Gewalt – denn Gesetz ist Gewalt – gegen eine Frau vorzugehen, weil sie über ihren Körper verfügt hat?
Gesetz ist Gewalt
Gesetz ist Gewalt. Jeder Gesetzerlaß unserer Lehnsherren in Washington (wobei die Mehrzahl verfassungswidrig ist) gewährt ihren Gendarmen die Erlaubnis, Aggressionen gegen unschuldige Bürger zu begehen. Jedes neue Gesetz, jede neue Vorschrift gibt den Ordnungshütern eine Lizenz, zumeist ungerechte und grundlose Gewaltakte gegen unschuldige Privatpersonen und deren rechtmäßiges Eigentum zu verüben.
Wettbewerb in einer freien Gesellschaft ist keine Aggression. Indem er an einer Straßenecke seine Waren feilbot, verletzte Garner keine Rechte einer anderen Privatperson. Der Ladenbesitzer, der ihm die Polizisten auf den Hals hetzte, hatte das Recht, nach Profit zu streben. Er hat kein Recht auf die Profite, die Eric Garner ihm wegschnappte. Nicht in einer freien Marktwirtschaft.
Mit seiner eleganten minimalistischen Definition von Recht und Unrecht stimmt der Libertarismus in letzter Konsequenz mit dem uramerikanischen Ideal der individuellen Souveränität unter einer eingeschränkten legitimen Obrigkeit überein.