„Befreien wir uns endlich von diesen Fesseln.| Nicht alles ignorieren, alles vergessen. | Unsere Fahnen tragen andere Farben. | Eines ist gewiß, unser Staat ist das nicht!“
dichtete der Südtiroler Georg Nössig.
Die Zeit der „Bumser“ ist schon einige Jahre vorbei. Der Sprengstoff wurde durch die Wahlurne ersetzt. Die Verse lassen sich heute auf alle Staaten Europas übertragen, in denen sich derzeit Unabhängigkeitsbewegungen formieren: ob auf Regionen mit starken Unabhängigkeitsbestrebungen wie in Schottland, Baskenland, Flandern, Katalonien, Korsika, Venetien und Südtirol. Oder auf Regionen wie Nordirland und Galizien, wo die separatistischen Ausprägungen derzeit nicht von Bedeutung sind. Das kann sich ab dem morgigen 18. September allerdings rasch ändern.
Schottland kann morgen die Büchse der Pandora öffnen und beweisen, daß Unabhängigkeit mehr wert ist, als jede Bevormundung durch eine zentrale Regierung in einer fernen Hauptstadt oder durch das Bürokratiemonster Brüssel. Spätestens seitdem die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS vorne lagen, beschäftigt sich nicht nur die Regierung in London mit der schottischen Yes-Kampagne. Die deutsche Medienwelt begann schlagartig in allen Facetten darüber zu berichten.
Fairneß und Eigenständigkeit
Britische Politiker versuchten indes, die Schotten mit Zuckerbrot und Peitsche wahlweise zu warnen oder zu überreden. Einige Politiker drohten gar mit der Verweigerung des britischen Pfunds als Währung eines eigenständigen Schottlands. Als Zuckerbrot diente die Ausdehnung der Autonomierechte.
Der Dirigent und stolze Schotte, Bob Ross, erklärte kürzlich im SZ-Interview, warum er für die Sezession Schottlands ist. Es ginge vor allem um Fairneß und um Eigenständigkeit. „Wenn wir in Großbritannien bleiben würden, könnten theoretisch bei der Parlamentswahl alle Wähler in Schottland für Labour stimmen. In London würden wegen des Mehrheitswahlrechts trotzdem die Konservativen regieren.“
Nicht mehr Melkkuh bankrotter Staaten sein
Es geht also nicht nur um die Geschichte und die Kultur, sondern um die Zukunft. Neben demokratiepolitischen spielen dabei auch selbstverständlich monetäre Gründe eine Rolle. Und wer kann es den meist reichen Regionen verübeln, nicht mehr als Melkkuh der bankrotten Staaten zu fungieren? Ohne Schottland ist Englands Wirtschaft auch nicht weiter als Frankreich, ganz zu schweigen vom einstigen Erzrivalen Deutschland.
In Südtirol oder Venetien ist es ähnlich. Der reichere Norden Italiens leidet unter dem engen Steuerkorsett des Staates. Während etwa die Wirtschaft in der Region Trentino-Südtirol weiterhin im Wachsen begriffen ist und mit einer Arbeitslosenquote von vier Prozent im Spitzenfeld Europas logiert, vermeldet die italienische Notenbank beinahe monatlich neue Hiobsbotschaften.
Schützenbund Südtirol schickt Abordnung nach Schottland
In den oben angeführten Regionen wird man ganz besonders gespannt auf das Ergebnis des morgigen Referendums blicken. Der Schützenbund Südtirol schickte sogar eine Abordnung nach Schottland. Alle deutschsprachigen Südtiroler Parteien mit Ausnahme der Südtiroler Volkspartei, die es nach wie vor scheut, den Horizont über die Autonomie hinaus zu erweitern, stehen geschlossen hinter der schottischen Ja-Kampagne.
Unterdessen versuchten Kritiker auf typisch abgestumpfte Weise zu argumentieren. In der Neuen Südtiroler Tageszeitung erklärte beispielsweise ein „bekannter Politikwissenschaftler“ namens Anton Pelinka in einem Interview, daß „das Recht auf Selbstbestimmung keine Lösung ist“. Und daß dieses viel mehr Unheil angerichtet hätte, als es Vorteile brachte. Die Loslösung des Kosovo von Serbien führt er als Beispiel für die „Phantasien“ an, welche die Separatisten beflügeln würden und nennt das Selbstbestimmungsrecht zusammenfassend einen „gefährlichen Unfug“.
Ein neuer Weg durch die Problemberge
Dabei zeigte die bevorstehende Abstimmung in Schottland schon jetzt Wirkung. Vergangenen Donnerstag demonstrierten rund 1,8 Millionen Menschen in Barcelona für ein Unabhängigkeitsreferendum und verwandelten das Zentrum der katalanischen Hauptstadt in ein rot-gelbes Meer. „Stellt die Wahlurnen bereit!“ und „Unabhängigkeit, Unabhängigkeit“ schallte es aus der bis dato größten versammelten Menschenmenge in der Geschichte Kataloniens.
Das Gesicht Europas kann sich in den kommenden Jahren erneut ändern. Weit weniger folgenschwer als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Dennoch so weit, daß neben der europäischen Integration bald ein zweiter, ein separatistischer Weg durch die neuen Problemberge Wirtschaftskrise und Integration geschlagen werden könnte.