Die Wahl zum europäischen Parlament am 25. Mai wirft ihre Schatten voraus. Nervosität scheint im Lager der großen Parteien zu bestehen, gerade angesichts weggefallener Sperrklauseln. Dabei könnte alles so einfach sein: Die lukrativen Posten könnten so bequem und halbwegs paritätisch zwischen dem christ- und sozialdemokratischen Lager aufgeteilt werden. Die inhaltlichen Unterschiede sind ohnehin marginal, wie selbst die großen Medien nach dem TV-Duell zwischen Martin Schulz und Jean-Claude Juncker feststellen mußten. Von einem „Duell“ wagt man angesichts von so viel freundlicher Neckerei eigentlich kaum noch zu sprechen. So könnte der EU-Zug so fröhlich weitertuckern in Richtung Eurobonds, offene Grenzen, Angleichung der Lebensverhältnisse. Und nebenher könnte man sich weiter ein wenig um unsere WC-Spülungen und stromfressende Kaffeemaschinen kümmern.
Wären da nicht einige Störenfriede. Gemeint ist das wilde Konglomerat an EU-Skeptikern, regionalistischen und rechtsnationalen Parteien, das von der französischen Front National über die niederländische Freiheitspartei und britische UKIP bis letztlich zur deutschen AfD reicht.
Gegen dieses Aufbegehren EU-kritischer Kleinparteien läuft nun schon seit Monaten eine im alarmistischen Tonfall gehaltene Medienberichterstattung. Da ist von „offen europafeindlichen Parteien“ die Rede, von „Populisten auf dem Vormarsch“ oder den „Rechtsaußenparteien“, die den Zug dennoch nicht aufhalten werden. Gefahr oder verschenkte Stimme also, ganz wie man möchte. Und auf jeden Fall sind tolle Initiativen nötig, die mit ganz viel Kreativität zeigen, wo man zu stehen hat, und die das EU-Wahlvolk auf die richtige Spur zurückführen.
„… daß es wichtig ist, sich nicht nur anzupassen“
Nun zeigt die Berichterstattung trotz aller Offensichtlichkeit auch Wirkung. Und da sich meine Alltagsbegegnungen zu 99 Prozent nicht aus Lesern dieser Zeitung oder Anhängern des konservativen Kleinmilieus zusammensetzen, bekomme ich „unten“ bestehende politische Stimmungen sehr rasch und klar mit. Zwei Begegnungen der letzten Tage möchte ich schildern. Sie fanden nicht im Arbeitermilieu und nicht im traditionell etwas konservativeren Kleinbürgertum statt, sondern mit jüngeren studierten Menschen, die einen modernen urbanen Lebensstil pflegen. In beiden Fällen handelte es sich um durchaus nette, freundliche Menschen, intelligent und kulturell interessiert. Beide Begegnungen hatten eigentlich gar nichts mit Politik zu tun, doch plötzlich fielen von seiten meines Gegenübers politische Sätze.
Der eine plauderte mit mir kurz über Kunst. Nach der Herkunft seiner Familie befragt, antwortete er mir, daß er aus Italien stamme. Plötzlich wurde seine Stimme erregt und er sagte: „Aber ich betone, daß ich mit diesen populistischen Leuten im Norden Italiens und ihrem Rassismus nichts zu tun habe. Das lehne ich vollkommen ab.“ Wieder ruhiger geworden fügte er an: „Das war jetzt mal eine politische Stellungnahme.“ Ich hätte nachfragen können, ob er damit die Lega Nord meine, und inwiefern die Lega wirklich Rassismus praktiziere, aber ich sagte nichts, da mir nicht an einer politischen Diskussion gelegen war.
Einige Tage später unterhielt ich mich mit einem Fotografen. Er sagte mir, daß er sich mit der Frage beschäftige, warum Menschen bestimmte Handlungen einfach mitmachten, zum Beispiel in den Krieg ziehen. Von der Bücherverbrennung erzählte er, bei der sicherlich nicht alle Zuschauer überzeugte Nationalsozialisten gewesen wären. Er brachte das Stichwort „Postdemokratie“ auf, erzählte von Tendenzen zur Anpassung, und daß es heute kaum noch bürgerschaftliches Engagement gegen politische Mißstände gäbe. Dabei wäre es doch wichtig, die Demokratie und die bürgerlichen Rechte zu verteidigen. Und plötzlich sagte er: „Wenn man sieht, was da für nationalistische Strömungen in den Niederlanden, in Frankreich und Österreich aufkommen, erkennt man doch, daß es wichtig ist, sich nicht nur anzupassen, sondern auch Gegenwehr zu leisten, also aktiv die demokratischen Rechte zu schützen.“ Auch hier verkniff ich mir schon aus Zeitgründen jede Äußerung dazu, obwohl ich das Gefühl hatte, mit diesem netten Menschen durchaus vernünftig reden zu können.
Streitbare Bürger bleiben hübsch in der Spur
Ich berichte von diesen beiden Begegnungen, die ja nur pars pro toto stehen, um zu zeigen, wie „oben“ geförderte Meinungen „unten“ ankommen. Das selbst bei Menschen, die sich eigentlich die richtigen Fragen stellen, die skeptisch gegenüber den Zugriffen der Macht sind und sich für die Rechte der Bürger einsetzen. Doch in ihren Antworten gelangen sie, ohne es überhaupt zu merken, stets zur Ausgangslage und zur Stabilisierung des Status quo zurück. So funktioniert „streitbare Demokratie“ in der Praxis offenbar.
Es geht an dieser Stelle nicht um eine Bewertung der teils sehr unterschiedlichen „rechtspopulistischen“ Gruppierungen, von denen einige vernünftigere Ansätze haben dürften, andere weniger zukunftsweisende. Es geht vielmehr um die Ebene der Empfindungen. Ist man seit Jahren gewohnt, von den etablierten, einander kaum noch unterscheidbaren sozialliberalen Überpapas und -muttis als den „demokratischen Parteien“ zu lesen, so werden oppositionelle Kräfte mindestens als „Populisten“ gebrandmarkt. Dies ist ein Schmähwort für jene Opposition, die naturgemäß nur die Leerstelle „rechts“ besetzen kann, denn „links“ gehört man seit vielen Jahren zum Establishment, wenn auch oft am Katzentisch.
„Populus“ ist einfach das Volk, das einen Staat bildet
Witzig ist, daß dem Wortstamm nach eigentlich gar kein Unterschied zwischen „Demokraten“ und „Populisten“ besteht. „Demos“ bezeichnet griechisch das Staatsvolk, „populus“ meint in Latein „das Volk, das einen Staat bildet“. Die sich exklusiv als „Demokraten“ darstellenden Sozialliberalen benutzen den Begriff „populus“ aber nur im seltenen Sinne des „plebs“, also der dummen Unterschicht, die wiederum von „Populisten“ beziehungsweise Volkstribunen propagandistisch verführt würde.
Wie schön ist es also, von „Demokraten“ regiert zu werden, die den Zug in den europäischen Bundesstaat weiter steuern, die uns ohne falsche Interessen alltäglich nur mit seriöser Sachinformation versorgen und denen jede „populistische Rattenfängerei“ offenbar fremd ist. Europa wird also nach dem 25. Mai eins, wir sind dann alle nur noch Menschen, und Martin Schulz wird für uns die Demokratie beschützen. Wir müssen nur das Kreuz an der richtigen Stelle machen. Ist dann noch das populistische Übel gebannt, wird am Ende doch noch alles gut. Oder?