Im Osten brodelt es. Wie diese Woche zu lesen war, möchte sich die Ukraine mit amerikanischer Hilfe die „mächtigste Armee Europas“ zulegen. Die soll dann wahrscheinlich zu mehr imstande sein, als in Kiew schöne Paraden zum Unabhängigkeitstag vorzuführen. Man darf wohl davon ausgehen, daß sie einer anderen mächtigen Armee Paroli bieten können soll, der russischen nämlich.
Wo das alles noch hinführen soll weiß derzeit keiner so genau. Allerdings fehlt es nicht an Kriegsrhetorik, die ganz offen den Anschluß an die Jahre 1938/39 sucht. Der Bundespräsident der BRD gehörte beispielsweise zu denen, die eine direkte Linie gezogen haben, als er bei den Gedenkfeiern zu 75-Jahren Kriegsbeginn in Danzig dazu aufrief, man dürfe „Aggressoren“ nicht nachgeben und keine Zugeständnisse machen, wo Grenzen verschoben worden seien. Das sei die „Lehre aus der Geschichte“.
Nun kann man ja theoretisch über alles reden. Doch fällt es schwer, in der Übertragung der einfältigen Geschichtsdeutungen einer deutschen Alleinaggression des Jahres 1939 auf eine angebliche russische Alleinaggression des Jahres 2014 etwas anderes zu sehen, als einen Vorboten des Unheils.
Schuldzuweisungen haben Konjunktur
Überhaupt haben historische Schuldzuweisungen in diese Richtung Konjunktur. Der russische Präsident etwa rechtfertigte letzthin den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und kritisierte den Westen für das Abkommen von München von 1938, das diesen Pakt erst nötig gemacht habe. Der derzeit prominenteste regierungsnahe US-Historiker Timothy Snyder nahm dies prompt zum Anlaß, den Spieß etwas umzudrehen, München zwar auch eine „Schande“ zu nennen, aber dann den Hitler-Stalin-Pakt zu verdammen, der Hitler „seinen“ Krieg erst ermöglicht habe.
Gemeinsam ist auch diesen Deutungen die Annahme, daß es einen unbedingten Kriegswillen auf deutscher Seite gegeben habe, gegenüber dem es nur eine kompromißlose Antwort gegeben habe. Was aber dachte man eigentlich in Deutschland über „München“? Der Diktator sei, so steht häufig zu lesen, vom Münchener Abkommen nicht begeistert gewesen, weil er damals seinen Krieg zunächst nicht bekommen habe. Das ist nicht ganz richtig. Recht verdrossen war er eigentlich erst, als seine Verhandlungspartner wieder aus München abgreist waren und zu Hause das größte Aufrüstungsprogramm aller Zeiten verkündeten, auf daß es kein weiteres „München“ gebe. Seine Schlußfolgerung fiel entsprechend aus:
Geschichte liefert keine Blaupausen
„In den Tagen von München ist es mir klar geworden, daß die Feinde des Dritten Reiches um jeden Preis unseren Kopf verlangten und daß es keine Verhandlungsbasis mit ihnen gab. Als der plutokratische Bourgeois Chamberlain mit dem friedlichen und trügerischen Regenschirm sich dazu herabließ, auf den Berghof zu fliegen, um mit einem Emporkömmling namens Hitler zu konferieren, da wußte er bereits, daß England uns einmal den Kampf bis aufs Messer ansagen würde. Er war bereit, mir das Blaue vom Himmel herunter zu versprechen, um mich einzuschläfern. Es ging ihm mit seiner plötzlichen Reiselust einzig und allein um Zeitgewinn.“
Daraus und aus den sonstigen Debatten kann man nun wohl wenigstens so viel lernen, daß Geschichte nicht eindeutig ist und keine Blaupausen liefert. Wenn es brodelt, wird man sich schon auf seinen eigenen Verstand verlassen müssen, wenn man den Krieg vermeiden will – falls man ihn denn vermeiden will.