Noch einmal zum D-Day, dem Tag der alliierten Landung in der Normandie 1944. Ein E-Mail-Verteilerkreis schickte mir einen Link zu dem Artikel „Danke, liebe Amis!“ aus der „Welt“ vom 4.6.2014.
Autor Til Biermann vertritt darin die These, dass die Deutschen den Amerikanern für das „heroische und verlustreiche Einschreiten“ während des zweiten Weltkriegs zu danken hätten. So hätten die Westalliierten in der Normandie 160.000 Soldaten eingesetzt, um „die Welt und Deutschland von seinem in großen Teilen der Bevölkerung heiß geliebten Diktator zu befreien“ und „den erbittert kämpfenden Sowjets im Osten Linderung“ zu verschaffen.
Ein gewisses Bedauern klingt in Biermanns Zeilen an, dass die Deutschen nach 1945 nicht ausreichend bestraft worden seien: „Die Deutschen hatten den Tod über andere Völker gebracht, einen Wind des Verderbens gesät. Als Strafe bekamen die Deutschen jedoch keinen Sturm zurück, sondern eher ein Lüftchen. (…)1945 stand dann nicht etwa eine Bestrafung an, die aufgrund der deutschen Kriegsgräuel nicht verwunderlich gewesen wäre, sondern im Westen mit dem Marshallplan eine riesige Belohnung.“
Herrschaft der Geschichtsmythen
Biermanns Position ist natürlich von Ignoranz gegenüber den zivilen deutschen Kriegsopfern geprägt. Sie ist zudem unhistorisch und ideologisch. Schließlich ist schon in der bekannten US-Direktive JCS 1067 über die alliierten Ziele nachzulesen, dass Deutschland „nicht besetzt zum Zwecke einer Befreiung“ werde. Und wenn es nur um die Befreiung von einer Gewaltherrschaft gegangen wäre, stellte sich die Frage, weshalb dies mit der Bombardierung ziviler Wohnquartiere, der Vertreibung von Millionen Menschen oder Massenvergewaltigungen, auch durch Westalliierte, einher gehen musste?
Wie sehr Biermann selbst von Medienbildern beeinflusst ist, zeigt sein langes Eingehen auf den Spielfilm „Soldat James Ryan“ von Steven Spielberg, der es stets meisterhaft versteht, Zuschaueremotionen zu lenken. Und zwar egal, ob es sich um einen Science Fiction, einen Horrorfilm oder ein Historiendrama handelt. Vergleichbar der Perspektive des Spielbergschen Protagonisten macht Biermann sich die Sicht der Amerikaner zu eigen und entwickelt daraus schon in der Wortwahl ein Gut-Böse-Schema. Klassifiziert er die Westalliierten als „heroisch“ so werden aus den deutschen Soldaten „alte SS-Kämpen, viele mit Erfahrungen (…) im Vernichtungskrieg“. Diese hätten ihre erhöhte Positionierung am Atlantikstrand „eiskalt“ ausgenutzt, um die offenbar nur in friedlicher Absicht erschienenen alliierten Landungstruppen „erbittert“ zu „töten“.
Herrschaft gründet sich oft auf (verinnerlichte) Geschichtsmythen, und so dient natürlich auch die Legende der Befreiung und der Dankbarkeit, die daraus zu resultieren habe, dazu, die aktuelle Legitimität amerikanischer Interessen untertänig anzuerkennen sowie mögliche Kritik auf Sparflamme zu halten. Selbst Kritik an den „kulturlosen“ Erzeugnissen amerikanischer Zivilisation versucht Biermann demagogisch mit der größten aller Keulen niederzubügeln: „Wer sechs Millionen Juden umgebracht hat, der müsste wissen, was wahre Kulturlosigkeit ist.“ Wer allerdings von den heutigen Kritikern amerikanischer Zivilisationsphänomene Juden umgebracht haben soll, wird Biermanns Geheimnis bleiben.
Staatsräson pur
In der E-Mail, die mir den Text zuspielte, wurde dieser empört als ein „unglaublicher Artikel eines antideutsch-verblendeten“ Autors kritisiert. Ich erinnerte mich aber daran, dass es schon zu meiner Schulzeit zu den häufig von Schülern und Lehrern geäußerten Floskeln gehörte, dass Deutschland ja „zwei Weltkriege angefangen“ habe, und wir froh sein sollten, nicht gewonnen zu haben. Und so antwortete ich dem Verteilerkreis:
„Ich finde weder, dass der Artikel `unglaublich´ ist noch `verblendet´ im Sinne einer nur individuellen Falscheinschätzung. `Antideutsch´ ist er natürlich (…). Das ist exakt die ideologische Geschichtssicht, die man bereits meiner Generation während der kompletten Schul- und Studienzeit beigebracht hat. Ich schätze mal, dass sicherlich 90% der Bundesbürger ab Jahrgang 1970 diesen Artikel bedingungslos unterschreiben würden bzw. nichts Anstößiges daran finden. Die restlichen 10 Prozent würden weitgehend vielleicht ein bisschen verdruckst lästern, aber letztlich auch mehrheitlich die Berechtigung der Argumente anerkennen. Selbst in meinem Bekanntenkreis würden mich manche Leute zur rechtfertigenden Erklärungen auffordern, wenn ich zu diesem Artikel Einwände einbrächte. Dieser Artikel ist Staatsräson pur und spiegelt das normale Denken der unter 45-jährigen wider.“
Für meine These, dass Biermanns Meinung den Mainstream einer ganzen Generation in diesem Sinne erzogener Journalisten vertritt, sprach beispielsweise, dass in der Braunschweiger Zeitung vom 7.6.2014 ein Artikel zum D-Day mit ganz ähnlichem Tenor aus der Feder des Jungautors Johannes Kaufmann erschien. Unter dem Titel „D – wie Dankbarkeit“ schrieb Kaufmann über den „Heldenmut“ und die „Opferbereitschaft“ der Alliierten, die Deutschland erst „die Rückkehr in die zivilisierte Völkergemeinschaft“ ermöglicht habe.
Bedürfnis nach heroischen Vorbildern
Auch hier wurde das männliche Bedürfnis nach heroischen Vorbildfiguren umgeleitet auf eine bedingungslose Identifikation mit den Siegern, deren Sicht man sich zu eigen macht. Das ist natürlich auch bequem, erspart es doch die komplexe Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und das kritische Hinterfragen internationaler Machtstrukturen. Das menschliche Bedürfnis nach dem Leben im Einklang mit einer Welt, die man möglichst bedingungslos bejahen möchte, findet also auf diese Weise Befriedigung.
Doch womöglich unterschätze ich die Urteilsfähigkeit der jungen und mittelalten Deutschen. Ich selbst bin oft emotional in diesen Fragen, da ich offenbar viele der kollektiven Verletzungen der deutschen Seele in meiner eigenen herumtrage. Insofern reagiere ich bisweilen irrational und gereizt, wenn ich den Eindruck habe, dass den Soldaten, die oft im besten Willen für ihr Land, aber nicht für Hitler kämpften, sowie den deutschen Opfern kein Respekt entgegen gebracht wird. Also fragte ich zwei Freunde nach ihrer Sicht des Biermann-Artikels. Es sind beides Freunde mit denen ich schon teils heftige Kontroversen hatte. Ich wählte sie, weil sie sich am ehesten nahe der Grundstimmung ihrer Generation bewegen. Beide betrachten meine gelegentlichen Aufreger bisweilen mit Befremden. Sie sind tendenziell nicht politisch unkorrekt, haben weitgehend ihren Frieden mit unserer Gesellschaft gemacht, deren Vorteile sie zu schätzen wissen.
Beide gaben mir auf meine Frage nach der Einschätzung des D-Day-Artikels recht ähnliche, überraschend differenzierte Antworten: Der Biermann-Artikel ginge zu weit, die Befreiungs-These sei „typisch deutsch“ in ihrer Überreibung. Der Autor klinge wie ein PR-Beauftragter der USA. Dankbar müsse man den USA nicht sein, da sie ihren Sieg aus außenpolitischen Interessen, nicht aber aus Gutmenschentum errungen hätten. Dennoch könnten wir Deutschen dankbar sein, dass die Umstände uns den Wiederaufstieg ermöglichten. Der Morgenthau-Plan wurde nicht umgesetzt. Die Amerikaner hatten eventuelle Rache- und Unterwerfungsgefühle gut im Griff und agierten klug, indem sie mit Hilfe des Marshall-Plans die Deutschen nach dem Krieg als kaufkräftige Zielgruppe und Verbündete förderten.
Eine Zukunftsvision
Ich erinnerte einen der Freunde an den von Ernst v. Salomon einst gewünschten alternativen Geschichtsverlauf, dass die Deutschen den Krieg hätten gewinnen und dann Hitler beseitigen müssen. Mein Freund nannte das unrealistisch, da ein Sieg nach dem Kriegseintritt der USA nicht mehr möglich gewesen wäre, insofern das deutsche Militär verblendet agiert hätte. Und wäre der Endsieg wirklich erfolgt, wie hätte man Hitler auf der Höhe seines Triumphes beseitigen wollen? Das 20. Jahrhundert verdichtete sich in diesem Land als fast unlösbare Tragödie, die irgendeinen Ausgang finden musste, dachte ich bei seinen Worten.
Die Reaktionen meiner Freunde gaben mir jedenfalls etwas Hoffnung. Vielleicht sind doch nicht alle zu Biermanns geworden. Und die Opfer und die eigenen Soldaten zu würdigen, schließt nicht aus, zu erkennen, dass Deutschland in anderen Aspekten wirklich noch Glück im Unglück hatte. Bei aller Gesellschaftskritik, wir konnten immerhin viele Kulturdenkmale wieder aufbauen, eine führende Wirtschaftsmacht werden, Wohlstand und Frieden sichern, die Wiedervereinigung erringen. Nun gilt es, dies gegen die Bedrohungen der Gegenwart zu schützen. Hierzu gehören das Formulieren neuer Zukunftsvisionen und politische Ansätze, die auf Verantwortung und eigenen nationalen Interessen fußen, nicht aber auf „Dankbarkeits“-Gesten gegenüber einstigen Kriegssiegern.