Der Europa-Mythos beruht, wie ein großer Teil unserer bundesdeutschen politischen Kultur, auf Angst. Angst soll kollektive Gemeinsamkeit schaffen, weil die liberale Ausrichtung unserer Gesellschaft zu wenig gemeinschaftlichen Kitt anbietet.
Das Suggerieren von Bedrohungslagen funktioniert auf der innenpolitischen Ebene bekanntlich durch das Beschwören des stets zur Verführung ansetzenden „braunen Rattenfängers“. So wie die Erwähnung von Teufeln und Hexen in der früher Neuzeit auch dazu benutzt wurde, die christliche Kirche durch eine ihr gegenüberstehende Negativmacht zu stärken, so dient heute der „Nazi“ als Disziplinierungsinstrument.
Oft bemerkte ich unter jungen Leuten, daß die wildesten Kritiker der politischen und sozialen Ungerechtigkeit in Diskussionen plötzlich handzahm werden, wenn sie die Angst vor der Wiederkehr der Geister der Vergangenheit erfaßt. Dann sprechen sie rasch davon, daß unsere Demokratie und Freiheit gegen Attacken geschützt werden müßten. Sie versammeln sich brav unter dem wärmenden Pullover Angela Merkels und Frank-Walter Steinmeiers, ohne zu fragen, ob dies ihre Zukunft vielleicht weit gravierender gefährden könnte. So macht sich Innovations- und Reformmüdigkeit breit, die Angst der etablierten Politik vor Machtverlust verbindet sich mit der Unsicherheit vieler Bürger vor Veränderungen des letztlich doch noch als bequem erfahrenen bundesdeutschen Lebens.
Europäische Identität mit Fluchtcharakter
Ähnlich sieht es mit dem Europa-Mythos aus. Michael Paulwitz hat auf dieser Webseite bereits vor kurzem ins Gedächtnis gerufen, daß die von manchen Deutschen seit Jahrzehnten stolzgeschwellt verkündete „europäische Identität“ auch einen Fluchtcharakter besitzt. Man versucht, der als unangenehm empfundenen deutschen Nationalität durch angenommene Neu-Nationalitäten zu entfliehen. Auch hier wirkt ein aus der Geschichte hergeleitetes negatives Drohpotential: Würde man nicht den Weg zu mehr Zentralisierung und EU-Bundesstaat gehen, dann drohe uns „der Nationalismus“, und dieser bedeute letztlich „Krieg“. So habe man sich mit Brüssels Zentralismus, mit dem Euro, mit doppelten Staatsbürgerschaften, mit EU-Sozialeinwanderung, mit Juncker und Martin Schulz abzufinden, da man sonst vermutlich via Zeitmaschine direkt in den Schützengraben von Verdun gebeamt würde, wo einem ein Nationalist mit Pickelhaube die Rückeroberung Elsaß-Lothringens befiehlt.
Ein aktuelles Beispiel dieses Argumentationsmusters, das die EU zum Friedensgarant stilisiert, lieferte nun der niederländische Predigersohn und Autor Geert Mak in einem Welt-Essay. Mak ist in der Vergangenheit als Kritiker von „Islamophobie“ und „Fremdenhaß“, von Theo van Gogh und Geert Wilders in Erscheinung getreten. In besagtem Welt-Essay zieht Mak durchaus sensibel den Bogen von der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs zur Gegenwart. Dabei benutzt er allerdings diese historische Erfahrung zur Legitimierung des europäischen Bundesstaates. So sei die EU das Ergebnis eines historischen Lernprozesses nach den traumatischen Kriegen unserer Vorfahren.
Nach langen Jahren der Scham hätten sich „die Europäer“ schließlich entschlossen, das Verhältnis zwischen den Staaten neu zu gestalten. Sie schufen „ein System mit supranationalen, überstaatlichen Institutionen, ein System, das nicht durch Truppenstärke und geschlossene Grenzen Sicherheit schaffen will, sondern durch Offenheit, gute Beziehungen, Zusammenarbeit und Überzeugungskraft. Ja, tatsächlich, die berühmte soft power der Europäischen Union“. Dieses „historische Experiment von beispielloser Größe“, dieses „große Wunder“ dürften „wir“ uns „nicht durch neues Trommeldröhnen nehmen lassen“.
Nicht kriegerischer Nationalismus bedroht heute die Kulturen Europas
Was damit gemeint ist, dürfte lange bekannt sein. Den Kritikern von Vereinheitlichungs- und Zuwanderungstendenzen wird rechtzeitig der schwarze Peter zugeschoben, falls das liberale Experiment wackeln sollte. Zugleich fehlt Mak, und das ganz typisch für fast alle „Mulitkulti“- und „Europa“-Enthusiasten, jedes Sensorium für die Zerstörung, die mit der Vereinheitlichung einher geht. „Der Frieden“ soll um jeden Preis erreicht werden.
Kriege finden aber heute nicht mehr im Stil des 20. Jahrhunderts, also zwischen Nationalstaaten und mit klarer Frontlinie, statt. Und nicht mehr ein kriegerischer Nationalismus ist heute die Gefahr für Europas Kultur, sondern die europäische und globale Vereinheitlichung der Lebenswelten. Nach den Dialekten, den Trachten, den Baustilen, den landsmannschaftlichen Gepflogenheiten werden zuletzt die Sprachen verschwinden. Man vergleiche nur die kulturelle Differenz zwischen den europäischen Ländern vor 100 Jahren mit der heutigen, sich angleichenden Lebenswelt auf fotographischen Aufnahmen. Schließlich, so wird uns gesagt werden, sei es doch auch viel praktischer und technisch erforderlich, wenn wir alle in Zukunft nur noch Englisch sprechen. So, wie es praktischer war, daß wir alle nur mit einem Geld bezahlen.
Niemand fordert heute kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Europas Völkern. Kaum jemand wünscht sich unbedingt Bürgerkriege, auch wenn ihre Entladungen oft auch den positiven Nebeneffekt hatten, unerträglich gewordene gesellschaftliche Blockaden zu lösen und neue Entwicklungen zuzulassen. Die Völker und Staatsmänner Europas haben schon lange vor der Installation der EU Lehren aus der „Urkatastrophe“ und den Kriegen des 20. Jahrhunderts gezogen. Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir mit multilateralen Zusammenkünften gut ausgekommen, ohne jeden Brüssel-Zentralismus und ohne, daß es erneut innereuropäische Kriege gegeben hätte. Auch haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen im Vergleich zum 20. Jahrhundert verändert. Somit bedarf es keines europäischen Bundesstaates, um den Frieden der europäischen Staaten und Nationen zu sichern.
Zentralismus und Vereinheitlichung unter der Maske der Vielfalt
Die heutige Bedrohung Europas ist der Zentralismus, ist die Vereinheitlichung, die unter der „Vielfalt“-Maske über den Kontinent wabert. Insofern spielt ein moderner „Nationalismus“ oder „Patriotismus“ (egal, welchen Begriff man wählen möchte) keine negative Rolle mehr. Es ist eine Form des Widerstands und der Bewahrung der Schöpfung. Sicherlich wird von einzelnen Gruppierungen auch heute noch manch unappetitlicher Chauvinismus und Rassismus transportiert. Doch das dürfte sich auswaschen.
Der positive Effekt aber selbst vieler solcher gepflegter alter Feindschaften ist die Hinwendung zum Eigenen, die Beschäftigung mit dem Selbst. Manchmal braucht es erst einmal der Abgrenzung und Pflege alter Chauvinismen, um wieder ein Gefühl für die eigene Identität entwickeln zu können, für die nationale Geschichte und Herkunft.
Zeit, sich zusammenzusetzen
Es geht heute nicht mehr um die gewaltsame Veränderung von Grenzen. Wohl geht es noch um das Selbstbestimmungsrecht der europäischen Völker, etwa der Schotten, Basken, Katalanen und Südtiroler. Vor allem aber geht es um das gemeinsame Anliegen, die Identitäten unserer europäischen Völker und Kulturen über das 21. Jahrhundert zu retten.
Somit ist es an der Zeit, daß sich die vielen konservativ, national und regional ausgerichteten Gruppierungen Europas zusammensetzen, deren Anliegen die Bewahrung von Europas Völkervielgestaltigkeit ist. Die vom herrschenden Sozialliberalismus geschmähten „Anti-Europäer“ haben es in der Hand, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen, und gemeinsam einen alternativen Entwurf Europas zu entwickeln – ohne Zentralismus, ohne Aufgabe nationaler Souveränitäten und Identitäten.