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Utes Post

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Weißmann, Reich, Republik, Nachkriegsrechte

Am 19. Januar 1971 schreibt die noch nicht siebenjährige Ute Niemeyer aus der Eichenstraße 10 in 1110 Berlin-Niederschönhausen einen Brief an Ihre Großeltern nach 2060 Waren/Müritz, Melkertstraße 15.

Es ist der erste Brief ihres Lebens. Innen ist er verziert von gemalten Buntstift-Bildern – ein Haus mit verschiedenfarbigen Gardinen, ein Mädchen auf einem der Balkone, überm Dach ein etwas überdimensionierter Vogel in Blau, davor eine Tanne mit Pilzen neben dem Stamm und noch mal einfach so drei Mädchen mit Zopfhaltern, die den Leser anlächeln.

Auf dem Kuvert klebt eine Zwanzigpfennigbriefmarke, nein, eine Fünfundzwanzig-Pfennig-Spendenbriefmarke, die ein vietnamesisches Mädchen zeigt, das, eine Waffe umgehängt, kniend Reis pflanzt: „Unbesiegbares Vietnam“. Poststempel: „Wieder mal ins Metropol, das heitere Musiktheater in Berlin, Hauptstadt der DDR.“

Der Brief, sauber und in recht großen Buchstaben mit Tinte auf einfach liniertem Papier geschrieben, lautet:

„Lieber Opa, liebe Oma! Papa, Mama und ich gehen gleich zu Tante Trude baden. Heute ist es warm und glatt und neblig. Da müssen wir aber aufpassen, damit wir nicht hinfallen. Ich habe bei Oma Lotte auf dem Hof einen Schneemann gebaut. Die Nase ist eine rote Rübe. Das ist eine feine Nase. Viele Grüße! Eure Ute“

Man konnte noch lesen und schreiben, damals

Elf Zeilen füllen das A4-Format, weil das Kind immer eine Leerzeile ließ, sechs bleiben frei für die Zeichnungen. — Zugegeben, der Schneemann hat nur ein e. Ansonsten: Das Mädchen Ute, im September ’70 eingeschult, war etwa vier Monate innerhalb der ersten Klasse zur Schule gegangen. Es beherrschte das komplette Alphabet, konnte lesen und einen kurzen, aber kompletten Brief schreiben. Die Buchstaben innerhalb der Worte sind in DDR-Schulausgangsschrift sämtlich miteinander verbunden. Nur der untere Bogen des ß hängt zu tief. Das Mädchen hat sich Mühe gegeben, man mag es sich mit konzentriert gespitzter Zunge im Mundwinkel vorstellen. Es wird sich darüber gefreut haben, daß am nächsten Tag ein gelbes Auto mit Posthorn ihr Kuvert in die Ferne fährt.

Mich würde interessieren, vom welchem Erstkläßler sich ein solches Brieflein heute in Inhalt, Schreibkompetenz und Form so lesen ließe. Ich vermute, man müßte lange suchen.

Nein, früher war nicht alles besser. Ebensowenig wie Vietnam unbesiegbar ist. Nur wurde so elementaren kulturellen Fähigkeiten wie dem richtigen Schreiben und Lesen ein Wert beigemessen, der offenbar verlorengeht. Abgeschafft zugunsten einer vermeintlich freudvolleren und lustbetonteren Grundschulpädagogik, die bitte nicht überfordern darf, weil in der Überforderung angeblich die Gefahr der Traumatisierung durch Leistungsdruck liegt. Das stresse die Kleinen, heißt es. Ebenso wie zu frühe Benotung. Die sie erwartende Leistungsgesellschaft wird noch schlimm genug.

Die Schlechtschreibreform hat uns um 100 Jahre zurückgeworfen

In bezug auf die sprachliche Norm fallen wir gerade trotz oder eher wegen der Rechtschreibreform ohne Zweifel hinter die II. Orthographische Konferenz von 1901 zurück; und wer die Pflege der Schreibschrift fordert, gilt mittlerweile als Reaktionär. Es gibt doch Tastaturen. Und vielleicht werden noch die Federhalter abgeschafft, weil sie die Kinderhand allzusehr verkrampfen. Schon dieses antiquierte Wort: Federhalter! Geradezu wilhelminisch.

Ich vermute, Erstkläßler im ersten Halbjahr können heutzutage vielleicht davon berichten, was sie im Morgenkreis alles so auszudiskutieren hatten, kaum aber Oma und Opa einen kleinen Brief schicken. Dafür lehrt schon der Kindergarten „spielerisch“ erste Lektionen Englisch, und die Grundschule ist „bilingual“. Mit dem Lernen der Schreibschrift fängt kaum mehr einer an, und das „Fest des Alphabets“, also das des Lesen- und Schreibenkönnens, wird mancherorts erst in dritten Klasse gefeiert.

Ute ist heute neunundvierzig, war als diplomierte Biochemikerin unzufrieden, weil sie nach der Wende nur als Pharmavertreterin arbeiten konnte, studierte ohne Einkommen und als Mutter von vier Kindern in Regelstudienzeit Medizin nach, arbeitet als Ärztin und schreibt weiterhin gern Briefe.

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