Bislang wurde Bundespräsident Joachim Gauck wenig vom „christlich-konservativen Milieu“ beachtet. Das hat mehrere Gründe, unter anderem seine Familienverhältnisse. Nun erhielt er etwas mehr Aufmerksamkeit, nachdem er am 2. Mai auf dem 34. Evangelischen Kirchentag in Hamburg behauptete, manche Menschen machten sich die Frage danach, ob ein Kind geboren werden solle oder nicht, „einen Tick zu leicht“ (zitiert nach Idea Spektrum vom 8. Mai). Es ist zwar erfreulich, daß sich der Bundespräsident kritisch zur Abtreibung äußert, doch etwas mehr Deutlichkeit und Verve hätte man sich doch gewünscht.
Das Recht auf Leben gehört zu den Grundrechten, die im Grundgesetz festgelegt wurden: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ (Artikel 2, Satz 2). Jeder Politiker, vor allem der Bundespräsident, müßte sich verpflichtet fühlen, sich lautstark für die Rechte der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft – also für die ungeborenen Kinder – einzusetzen. Schließlich ist der Schutz der Bürger eine elementare Pflicht des Staates.
Das Leben der ungeborenen Menschen zu schützen: Darauf verzichtet der deutsche Staat. Hier wurde de facto die Rechtsstaatlichkeit abgeschafft. Der Bundespräsident – vor allem einer, der gegen die DDR-Staatsmacht Widerstand geleistet hat, was ihn ja auch zum Präsidentenkandidaten gemacht hat – müßte immer wieder darauf energisch hinweisen. Die Behauptung, manche Menschen „machten es sich einen Tick zu leicht“, kann an Minimalismus gar nicht mehr untertroffen werden.
Von den USA lernen!
Etwas besser (aber nicht viel besser) war die Antwort der CDU/CSU auf eine Postkartenaktion von SOS Leben (eine Initiative der „Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur DVCK e. V.“) im April dieses Jahres. Im Postkartentext wurde auf die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht hingewiesen, die das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag im Urteil von 1993 zum § 218 StGB auferlegt hat. In der Antwort aus dem Büro Kauder wird erläutert: „Es ist leider eine Tatsache, daß es für ein grundsätzliches Herangehen an die Abtreibungsproblematik im Deutschen Bundestag zur Zeit keine Mehrheiten gibt. Ein rein symbolisches Aufgreifen der Abtreibungsdiskussion mit schon vorausschaubarem negativen Ergebnis würde aber diesem wichtigen Thema nicht nur nicht gerecht werden, sondern schaden.“ (vollständiger Text hier)
Das ist ein Irrtum. In den Vereinigten Staaten bringen christliche oder konservative Abgeordnete trotz fehlender Mehrheiten ständig Gesetzesprojekte gegen die Abtreibung ins Parlament, eben um die öffentliche Diskussion am Leben zu halten. Sie tun das zum Teil, weil sie von ihrer Einstellung überzeugt sind. Aber auch, weil die vielen Lebensrechtsorganisationen sie dazu auffordern und geradezu zwingen. Diese konservativen Politiker in den Vereinigten Staaten wissen sehr wohl, daß sie keine Mehrheiten haben, doch dank ihrer parlamentarischen Initiativen machen sie es den Lebensrechtlern einfacher, die vielen Abtreibungsgegner zu mobilisieren. In Deutschland wünschen sich statt dessen viele C-Politiker Friedhofsruhe. Das hat zum Ergebnis geführt, daß die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung heute „pro-Life“ denkt und es in vielen Gegenden schwer ist, überhaupt abzutreiben.
In den Vereinigten Staaten vollzieht sich ein Gesinnungswandel, von dem wir in Deutschland gegenwärtig nur träumen können. Doch das war nur deshalb möglich, weil der politische und der vorpolitische Raum in den Vereinigten Staaten stets zusammenarbeiten. Eine der größten Schwierigkeiten der deutschen Lebensrechtler, das Thema § 218 StGB in der Öffentlichkeit am Leben zu halten, ist die unverantwortliche Abstinenz der C-Politiker.
Und bei uns? Ignoranz bei christlich-konservativen Politikern
Aber man braucht gar nicht über den Atlantik blicken. Auch bei uns in Deutschland gibt es Politiker, die gut verstehen, daß man anhand der Themensetzung Wähler an sich bindet, auch dann, wenn es keine Mehrheiten gibt: Die Grünen haben jahrzehntelang geradezu utopische Forderungen gestellt. Auf diese Weise haben sie Menschen mobilisiert und an sich gebunden. Ob sie im Bundestag damit Erfolg haben würden, war ihnen zunächst egal.
Noch heute pfeifen die Grünen auf Mehrheiten und selbst auf das Bundesverfassungsgericht. So fordern sie im Wahlprogramm für die Bundestagswahl am 22. September: „Frauen müssen über ihre Schwangerschaften frei und ohne Kriminalisierung entscheiden können.“ Gegen eine „Entkriminalisierung“ spricht eindeutig das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993, das unmißverständlich bestimmte, Abtreibung sei eine rechtswidrige Tat (auch, wenn sie unter gewissen Bedingungen straffrei bleibt). Das ist den Grünen aber völlig egal, ihnen geht es um ihre Klientel.
Christliche Politiker ignorieren diese Strategie. Dadurch, daß sie sich hinsichtlich Lebensrecht, Familie, Homo-Privilegien, Prostitutionsgesetz usw. äußerst defensiv und mit wenig Überzeugung verhalten, während Grüne und sonstige Linke auf die Pauke hauen, verschiebt sich die Achse ständig nach links. Nur dank der christlichen Basis – die sogenannten christlichen Stammwähler –, die sich mit großem Idealismus für die christlichen Werte und Prinzipien in der Politik entschlossen einsetzt, ist Deutschlands Politik noch nicht völlig unchristlich.