Wer sich an einer weiteren deutschen Nationalgeschichte versuchen sollte, der könnte sie gut und gern um das Thema Wahlen herumstricken: „Deutschland, das Land der Wahl“. Das wäre zwar ein ambitioniertes Projekt, aber so manches spräche dafür.
Nach guter alter Sitte wurde, wenn denn nötig, in Germanien schon immer dann und wann von der Allgemeinheit ein König per Akklamation auf den Schild gehoben. Sicher, Adel und das Ansehen der Herkunft spielte bei der Auswahl der Person eine wesentliche Rolle, aber ein unmittelbares Nachfolgerecht hat sich nie formal etablieren können. Seit Arminius’ Zeiten wurde als Herrscher gewählt, wer „geeignet“ war.
So wurde denn auch das Reich, das sich später zum „Reich deutscher Nation“ auswachsen sollte, vor mehr als tausend Jahren als Wahlkönigtum etabliert. Sicher, hier schrumpfte die Zahl der Wahlberechtigen mit dem Aufkommen von Feudalismus und Römischem Recht bald auf das überschaubare Gremium der sieben Kurfürsten zusammen. Aber eine unmittelbare Erbfolge, wie im europäischen Ausland sonst meist die Regel, gab es auch hier nicht. Wenn in Deutschland „der König ist tot“ gerufen wurde, dann folgte nicht automatisch „es lebe der König“, sondern ein Interregnum, es sei denn, ein Jüngerer war vorher zu Lebzeiten des Alten – gewählt worden.
„Teutsche Freiheiten“, die anderswo undenkbar waren
Das hatte Folgen, über die schon ungezählte Historiker berichtet und spekuliert haben. Keine starke Zentralgewalt konnte sich entwickeln. Statt dessen gab es vor jeder Wahl immer wieder Geschenke des „Kandidaten“ an das Wahlgremium, also eine Schwächung des Königstitels und damit ein Bedeutungsverlust des Gesamtstaats gegenüber den Teilstaaten. Auf der anderen Seite erfreuten sich unter diesen Bedingungen die damals berühmten „Teutschen Freiheiten“ ihrer Existenz, die in den anderen, zunehmend zentralisierten europäischen Monarchien undenkbar gewesen wären. Ein deutscher Monarch hatte zudem gute Aussichten, eines natürlichen Todes zu sterben, statt vergiftet oder in Palastrevolten samt seiner Verwandtschaft niedergemacht zu werden, wie es etwa bei der christlich-oströmischen Kaiserkonkurrenz beinah die Regel war.
Das, so wurde oft angenommen, zementierte dann wieder die allgemeindeutsche Gefühlslage, das Recht auf eine Wahl zu haben, mindestens auf Gehör. Die erste große europäische Revolution gegen den päpstlichen und feudalen Status quo fand durch Reformation und Bauernkriege schließlich in Deutschland statt. Sie wäre ohne die tief verwurzelte, aus vor-feudalen Grundlagen entwickelte föderalistisch-partikularistische Tradition und das Selbstbewußtsein kaum möglich gewesen. Bibelübersetzungen hatte es schon vorher gegeben. Erst in Deutschland aber wurde die Möglichkeit, das christliche Wort Gottes höchstpersönlich selbst lesen zu können, zum allgemeinen Anliegen und zur nationalen Bombe.
Bis zum Ende des Alten Reichs am Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert blieb das Wahlkönigtum erhalten, mit allen Vor- und Nachteilen. Zur Vermeidung letzterer gewöhnte man sich an, den jeweiligen Repräsentanten des Hauses Habsburg zum Staatsoberhaupt zu wählen. Eine Zentralbürokratie gab es trotzdem immer noch allenfalls im Ansatz, immerhin einen „ewigen Reichstag“.
Die Antwort auf die Fremdherrschaft gab es – per Akklamation
Solche Verhältnisse wurden später vor allem von der preußenfreundlichen Geschichtsschreibung als hoffnungslos rückständig und existenzgefährend dargestellt. Preußens Aufstieg sei darauf die Antwort und die Rettung gewesen. Aber die französische, durch Napoleon Bonaparte zum Erfolg geführte Invasion Deutschlands stellte schließlich alles in Frage. Dazu gehörte die Existenz des Reichs genauso wie der Bestand Österreichs oder Preußens. Am Beginn des 19. Jahrhunderts stand Deutschland damit vor einer ganz grundsätzlichen Wahl besonderer Art: Wollte man französische Kolonie bleiben oder nicht? Man kann sagen, daß die Antwort in gewisser Weise per Akklamation gegeben wurde.