Einen Augenblick rieb man sich die Augen: Kann es wirklich dabei bleiben, daß eine religiöse Vorschrift, die für Juden wie für Muslime gilt, von einem deutschen Gericht als Körperverletzung eingestuft wird? Immerhin handelt es sich bei der Beschneidung von Jungen nicht um irgendeinen Brauch, sondern um ein Gebot, das den Bund Gottes mit Abraham und dessen Nachkommen zum Ausdruck bringen soll: „Alles, was männlich ist unter euch, muß beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen […]. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden“ (Gen. 17, 10-14).
Natürlich „kann“ es nicht dabei bleiben, und „unsere“ Volksvertreter haben sich bereits – bis auf diejenigen der Linkspartei, die nach ihrer Klage gegen den ESM schon wieder erstaunlich positiv auffällt – zu der immer üblicher werdenden Allparteienkoalition verständigt, die nun schnellstmöglich eine gesetzliche Ausnahmeregelung formulieren will. Schließlich dränge die Zeit; der „Rechtsfrieden“ müsse wiederhergestellt werden – tatsächlich geht es eher um einen Frieden zwischen säkularem Recht und religiösem Dogma, und ersteres wird wohl zurückweichen müssen.
Wenigstens sind sich jüdische und muslimische Lobby-Verbände in dieser Angelegenheit einig, und die Damen und Herren im Bundestag befinden sich in keinem Loyalitätskonflikt. Da das lästige Argument des Rechtes eines minderjährigen Kindes auf seine körperliche Unversehrtheit juristisch nicht ganz beiseite zu wischen sein wird, könnte es zu einem ähnlichen „Kompromiß“ wie bei der Abtreibung kommen: eigentlich rechtswidrig, aber straffrei.
„Vorrang“ des männlich gedachten Stammesgottes
Weitgehend verschwiegen wird bei dieser Debatte aber, daß es nicht nur um das Wohl des Kindes geht – dem ja auch aus medizinischen Gründen Schmerzen zugefügt werden dürfen –, sondern um das Prinzip der Religionsfreiheit: Der Islam erkennt diese explizit nicht an, wenn auf Glaubensabfall gemäß der Scharia die Todesstrafe steht, und auch im Judentum – als ethnischer Religion, der man zumeist aufgrund der Abstammung von einer jüdischen Mutter angehört – ist die religiöse Selbstbestimmung eingeschränkt. Die Markierung einer lebenslangen Zugehörigkeit ist ja gerade der Sinn einer irreversiblen, wenn auch physiologisch harmlosen Amputation.
Die psychischen Folgen mögen gravierender sein, lassen sich aber schwer nachweisen. Freud spekulierte über eine aus der Beschneidung folgende Kastrationsangst, die besonders auch die Phantasie der Antisemiten erregt habe; jedoch scheint er den wesentlichen Punkt zu übersehen: Zweifellos entstammt die Zirkumzision einer patriarchalen, phallozentrischen Tradition, aber ihr entscheidendes Motiv ist nicht die angedeutete Kastration (die in anderen Kulturen, etwa bei den Priestern der griechisch-kleinasiatischen Kybele, durchaus vollzogen wurde), sondern eine Unterwerfung: Abraham verkürzt seinen Penis symbolisch, indem er sich selbst beschneidet, und erkennt damit den „Vorrang“ des sehr männlich gedachten Stammesgottes an, von dem alle Zeugungskraft ausgeht; als Gegenleistung wird ihm versichert, daß seine Nachkommen so zahlreich „wie die Sterne am Himmel sein werden“.
Austritt aus der Unterwerfungsgemeinschaft
Die Ablehnung der Beschneidung durch einen jener Nachkommen impliziert also den Austritt aus der Unterwerfungsgemeinschaft der Beschnittenen. Es ist kein Zufall, daß diejenige Religion, deren arabischer Name mit „Unterwerfung“ zu übersetzen ist, dieses Ritual übernommen hat, obwohl es im Koran nicht erwähnt wird.
Aber auch im Christentum, das die Beschneidungspflicht zurückwies beziehungsweise zur „Beschneidung der Vorhaut des Herzens“ mahnte, spielte der Kult um die Vorhaut eine große und aus heutiger, zumal nichtkatholischer Sicht wunderliche Rolle: Nicht nur, daß seit dem Frühmittelalter am 1. Januar das Fest der Beschneidung des Herrn gefeiert wurde, sondern es entwickelte sich eine rege Spekulation darüber, was mit der Heiligen Vorhaut nach deren Abtrennung geschehen sei.
Offenbar sei sie nicht mit dem Leib Jesu auferstanden – sie könnte also noch irgendwo existieren beziehungsweise wurde lange Zeit in vielen Kirchen als Reliquie gezeigt. Besondere Aufmerksamkeit widmete ihr die Frauenmystik: Katharina von Siena trug die Vorhaut Jesu in ihren ekstatischen Visionen als Ehering. Vergleichsweise nüchtern war dagegen die Auffassung von Leone Allacci, der im 17. Jahrhundert Kurator der Vatikanischen Bibliothek war; er vermutete, daß die Heilige Vorhaut doch mit Jesus in den Himmel aufgefahren sei und nun den Saturn umkreise – dessen Ringe gerade entdeckt worden waren.
Zwar werden unsere Politiker, die neuerdings so sensibel sind, wenn es um religiöse Gefühle (von Juden und Muslimen) geht, über solche Fragen nicht diskutieren, aber weitere intensive Debatten um die Vorhaut stehen uns dennoch bevor.