Vor mir liegt ein Buch, das in der germanisch-heidnischen Szene schon lange erwartet wurde und als Standardwerk zur modernen Ásatrú-Bewegung gelten kann: 480 Seiten umfaßt das von dem Cambridger Nordisten Kveldúlf Gundarsson unter dem Titel „Ásatrú – Die Rückkehr der Götter“ zusammengestellte und von Kurt Oertel, der auch den größten Teil übersetzt hat, herausgegebene Opus. Die englische Ausgabe erschien bereits 1993 und 2006 unter Mitarbeit sowohl von Fachgelehrten als auch von internationalen Erfolgsautoren wie Diana L. Paxson und Stephan Grundy als erster Band von „Our Troth“ über „History and Lore“ des nordischen Heidentums, dem 2007 ein zweiter Band „Living the Troth“ folgte.
Wie der Titel der Originalausgabe schon sagt, spiegelt das Buch die Sichtweise des „Troth“, eines Verbandes der amerikanischen Ásatrú-Szene, und seiner deutschen Partnerorganisation „Eldaring“ wider und versucht zugleich, den aktuellen Stand der religionswissenschaftlichen, philologischen, historischen, und archäologischen Forschung in populärer Form zu präsentieren – dieser Spagat ist ohne Zweifel gelungen, und die Edition Roter Drache hat sich mit der Publikation der deutschen Ausgabe große Verdienste erworben. Insbesondere ist die umfassende Perspektive hervorzuheben: Die Autoren gehen bis in die Steinzeit zurück und rekonstruieren, ohne vorschnelle Gleichsetzungen, die Genese des nordeuropäischen Heidentums, wie es vor allem aus der Wikingerzeit überliefert ist, anhand der prähistorischen, antiken und frühmittelalterlichen Zeugnisse; zudem sind jeder Gottheit sowie dem germanischen Verständnis des Kosmos oder des Lebens nach dem Tod ausführliche Kapitel gewidmet.
Freilich ist ein Spagat mit zwei Beinen schon schwierig genug, und um ihn mit noch mehr Beinen hinzubekommen, müßte man schon Odins Hengst Sleipnir sein – und selbst dieser kann mit seinen acht Beinen nicht in allen neun Welten gleichzeitig stehen. Jede Sichtweise eröffnet ein bestimmtes Blickfeld, verdeckt aber andere, und die moderne wissenschaftliche Perspektive, die das Buch einnimmt, dient nicht zugleich auch der Förderung eines heidnisch-religiösen Bewußtseins. Damit soll keinesfalls einem Gegensatz von Glauben und Wissen – der für das Heidentum gerade nicht in derselben Weise wie für das Christentum gilt – das Wort geredet werden, aber die am Meß- und Belegbaren ausgerichteten wissenschaftlichen Methoden und die religiös-intuitive Weltbezugnahme sind verschieden und bedürfen der wechselseitigen Ergänzung. Während das Pendel in vielen Büchern zur germanischen Religion oft sehr in die spekulative Richtung ausschlägt, verbleibt es hier etwas zaghaft auf der Seite des derzeit „wissenschaftlich Gesicherten“.
Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
Offenkundig folgt dieses Defizit aus der Aversion der Autoren gegen alles, was irgendwie der völkisch-heidnischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts entstammt. Leider wird wieder einmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet: Die Tatsache, daß viele Spekulationen damaliger Autoren unbelegbar oder überholt sind, ändert nichts daran, daß manche von ihnen uns in anderer Hinsicht einiges an visionärer und gestalterischer Kraft voraushaben – unter den Vorzeichen von Neuromantik, Jugendstil, Lebensreform und bündischer Bewegung dämmerte eine europäische, postchristliche (aber nicht materialistische) Kultur am Horizont, die nach 1933 mit vielen anderen hoffnungsvollen Ansätzen pervertiert oder zerstört wurde. Da die Autoren dieses Buches jeden „gewagteren“ ganzheitlich-kulturphilosophischen Ansatz – nicht nur von völkischen Vordenkern, sondern auch von Carl Gustav Jung oder Marija Gimbutas – zurückweisen, kommt ihr Verständnis von Heidentum über historische Rekonstruktionen und – im „Eldaring“ – über eine Praxis, bei der man sich auf keine Verbindlichkeit, außer derjenigen, „gegen rechts“ zu sein, einigen kann, kaum hinaus.
Die Orientierung nicht nur an der heutigen Wissenschaft, sondern auch an den mit dieser verbundenen politischen Implikationen führt dann auch zu mancher Einseitigkeit: So beruft man sich etwa auf Kris Kershaws wichtiges Werk über „Odin und die indogermanischen Männerbünde“, blendet aber aus, daß es wesentlich auf den Forschungen Otto Höflers beruht, der, wie etwa auch Jan de Vries, für das SS-„Ahnenerbe“ tätig war. Ebenso wird zwar gegen den „Ariosophen“ Guido von List polemisiert, aber verschwiegen, daß Edred Thorsson – prominenter Mitbegründer des „Troth“ – dessen Runenbuch ins Englische übersetzte und auch sonst wesentlich von List beeinflußt ist. Betrüblich sind die Schmeicheleien gegenüber „Rabenclan“ und „Nornirs Aett“, wenn man aufgrund zahlreicher persönlicher Gespräche weiß, wie sehr diese „heidnischen“ Antifa-Gruppen wegen ihrer Denunziationen selbst in dem um politische Korrektheit bemühten „Eldaring“ gehaßt und gefürchtet sind.
Zeitgeistigkeiten dieser Art und der daraus resultierende Dauerzwist sind für das heutige Neuheidentum ebenso charakteristisch wie das ernstgemeinte, theoretisch und praktisch fundierte Streben nach einer alternativen, im natur- und sippenverbundenen Denken unserer Vorfahren verwurzelten Lebensform – es gibt den bloßen Internetheiden, aber auch den studierten Skandinavisten oder den heidnischen Öko-Bauern, der von der Presse als „Öko-Nazi“ gehetzt wird; die Szene ist vielfältig, und das vorliegende Werk liefert in ihre theoretischen Grundlagen einen ausgezeichneten Einblick.