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Der Klub der toten Dichter

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Nach einem Jahr EOS-Internat hatte ich am Ende der neunten Klasse kein Heimweh mehr. Das Wehrkunde-Ausbildungslager war gerade vorbei, und ich fuhr mit dem Rad zu einer Klassenfete über Land. Vorher hatte ich in der Volksbuchhandlung einen Band erstmals bei Reclam Leipzig erschienener Kafka-Erzählungen gekauft. Selbstverständlich kein Schulstoff, gerade deswegen ja interessant. Ich hielt an der Stepenitzbrücke, wo das Wasser so anheimelnd übers Wehr rauscht, verschlang auf dem Geländer sitzend die Erzählung „Ein altes Blatt“ und war hin und weg.

Bei der Party las ich diese und zwei andere Texte – „Schakale und Araber“ und „Vor dem Gesetz“ – meinen Freunden vor. Wir hätten das alles nicht interpretieren können, schon gar nicht wollen, aber diese Prosa schlug eine tiefe Saite in uns an, und wir waren uns einig: Das ist Literatur! Unser Deutschlehrer, den wir bestürmten, lächelte nachsichtig. Ja, er kannte Kafka, dem Namen nach. Mehr nicht. Wir achteten ihn übrigens sehr, ein Mann, der Altgriechisch konnte und Latein und von Barockdichtung über Aufklärung, Sturm und Drang und vor allem die Weimarer Klassik, als deren Erbevollstrecker sich die DDR sah, eine Menge mehr wußte und zu verstehen schien als das Lehrbuch. Aber Kafka?

„Wenn dir so was liegt, dann lies Gottfried Benn“

Später fanden mein Freund und ich in der Schulbibliothek die Expressionismusanthologie „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pinthus, in der DDR immerhin erschienen!, und wollten die in einer Deutschstunde vorstellen. Lieber nicht! Expressionismus paßte seit Georg Lukács nicht ins Erbeverständnis: Die Zerstörung der Vernunft! Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Es war Lukács’ Wunsch, daß alles einfach bei Kant und Hegel geblieben wäre und daß es hauptsächlich Schopenhauer und Nietzsche besser nie gegeben hätte, weil sie die gute und vermeintlich sichere Vernunft in der Philosophie vorsätzlich verdarben, weshalb das aufgeklärte, einst fortschrittliche Bürgertum dann imperialistisch degenerierte. Philosophie quasi als Geisteskrankheit.

Irgendein nickelbebrillter Zwölfer raunte mir auf dem Pausenplatz zu: Wenn dir so was liegt, dann lies Gottfried Benn! Der ist zwanzig Kilometer von hier geboren. – Gottfried Benn? Einen Tag später erhielt ich einen in das Neues Deutschland eingewickelten Westband so konspirativ herübergeschoben, als handelte es sich um gefährlichste Konterbande. War es auch. „Benns Nihilismus“, hatte der Durchsetzer des „Sozialistischen Realismus“ Alfred Kurella geschrieben, „lasse nur einen Salto mortale in das Lager Hitlers zu.“ – Schon am Nachmittag tippte ich mir auf der Schreibmaschine die Morgue-Gedichte ab. Hätte es die Interjektion unter DDR-Jugendlichen gegeben, so würde ich dabei wahrscheinlich „Wow!“ geraunt haben.

Der erste überhaupt von stalinistischen Säuberungen kündende Band in der DDR war Peter Weiss’ 1983 erschienener Roman-Essay „Die Ästhetik des Widerstands“. Es stand in dem Wälzer eine Menge mehr, aber uns interessierten nur die Leichen im eigenen Keller. Geringe Auflage, selbst unter Freunden ungern verborgt, in der Deutschen Bücherei eine Warteliste von über einem Jahr.

Schüler von heute sind kaum für Literatur zu begeistern

Franz Fühmann, heute in seiner Wirkung vollkommen unterschätzt, fast vergessen, brachte 1982 eine erste Sammlung von Freud-Aufsätzen heraus, indem er den Reclam-Verlagschef Hans Marquardt, Nationalpreisträger und Fühmann wie Grass bespitzelnder Stasi-IM „Hans“, dazu überreden konnte. 1985 folgte, wieder auf Initiative Fühmanns, mit der Faksimile-Edition von „Ecce homo“ die erste Nietzsche-Ausgabe der DDR. Damit waren die beiden Portalfiguren der Moderne, Nietzsche und Freud, wenigstens in Einzelbänden präsent. Der irrlichternde Lukács-Schüler Wolfgang Harich, selbst vormals sieben Jahre Bautzen-Häftling, als faszinierende Persönlichkeit Oppositioneller und Bekenner in einer Person, verteufelte die zaghafte Nietzsche-Rezeption in Sinn und Form und wetterte in einem Brief an Willi Stoph, Nietzsche wäre die „reaktionärste, menschenfeindlichste Erscheinung, die es in der gesamten Entwicklung der Weltkultur von der Antike bis zur Gegenwart gegeben hat.“

Als 1986 neunzig Gedichte Gottfried Benns bei „Volk und Welt“ mit einem hervorragenden Nachwort von Joachim Schreck erschienen, stand ich als Student im zweiten Semester in einem Pulk Wartender zwei Stunden vor Öffnung an der Tür der Leipziger Franz-Mehring-Buchhandlung.

Heute gibt’s alles einfach so, heute steht alles hier und da in den „Empfehlungen“ der Rahmenrichtlinien. Zwanzig Jahre war ich Lehrer für Deutsch und Philosophie; aber ich hatte mitten in Marktwirtschaft und Demokratie die allergrößte Mühe damit, auch nur einen Bruchteil der damaligen Begeisterung bei meinen Schülern zu wecken. Und Schulbibliotheken? Die Gymnasien, an denen ich unterrichtete, deklarierten zwar Räume dazu, in denen ein paar Bücher deponiert wurden, aber diese Orte verdienten den Namen Bibliothek nicht und Schüler fanden sich dort nur zwangsverpflichtet ein.

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