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Wertung aller Umwertungen

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In seiner JF-Kolumne der vergangenen Woche zitiert „Pankraz“ eine bemerkenswerte Äußerung des berühmten tschechischen Schriftstellers Milan Kundera, die mich zu einer kleinen Meditation über „das Politische im Übergang“ angeregt hat. „Das ideale politische System“ – so sagt Kundera – „ist eine Diktatur im Verfall. Der Unterdrückungsapparat funktioniert dann immer mangelhafter, doch er ist noch da und stark genug, um den kritischen und spöttischen Geist zu stimulieren.“

Kundera hat den verfallenden Ostblock erlebt und vermag diese Dinge zu beurteilen – ob man sein Bonmot aber auch auf die wankenden oder bereits umgestürzten Diktaturen heutiger orientalischer Potentaten übertragen kann, ist eine andere Frage; statt einer Entfaltung des kulturell kreativen Geistes wie während des Prager Frühlings beobachtet man dort eher Chaos und Bürgerkrieg.

Aber auch in einer „Demokratie im Verfall“ hat es der „kritische und spöttische Geist“ schwer. Diese zeichnet sich nämlich gerade nicht dadurch aus, daß sie die Zügel schleifen läßt, auch wenn vordergründig laissez-faire, Freizügigkeit und Relativismus herrschen – stattdessen werden liberale Zuckerbrote in genauer, klientelspezifischer Zumessung verteilt, um davon abzulenken, daß die Demokratie im Verfall gerade keine beginnende Anarchie, sondern eine Diktatur im Entstehen ist.

Demokratie als Glaubens- und Morallehre

Man nennt sie heute freilich „Postdemokratie“, und sie unterscheidet sich von der „klassischen Diktatur“ dadurch, daß formal alle demokratischen Spielregeln eingehalten werden, daß es mehrere Parteien gibt, die gewählt und abgewählt werden dürfen, daß Gewaltenteilung und Pressefreiheit weiterhin gelten – und insbesondere dadurch, daß es allen (noch) relativ gut geht und nur Minderheiten (oder schweigende Mehrheiten?) die Veränderungen bemerkt sowie – etwa in Form von Wahlenthaltung oder Medienkonsumverweigerung – Konsequenzen gezogen haben.

Alles „stimmt“ noch äußerlich, und doch hat sich der Sinn, der bislang mit den Begriffen und Institutionen verbunden wurde, schleichend verändert: „Demokratie“ zum Beispiel ist jetzt nicht mehr eine politische Organisationsform, die durch „Herrschaft des Volkes“ oder – weniger pathetisch und euphemistisch – durch Wahlen und Abstimmungen gekennzeichnet ist, sondern eine Glaubens- und Morallehre, zu der die Akzeptanz (oder rituelle Bekundung) gewisser „Werte“ gehört; der Demokrat ist folglich nicht mehr der Wähler oder Gewählte, der bestimme Regeln wie etwa diejenige einhält, sich dem Mehrheitswillen zu unterwerfen, sondern er ist – jedenfalls nach seinem Selbstbild – ein „guter Mensch“, der sich wie Wolfgang Thierse etwa über kleinliche „formaljuristische“ Paragraphenreiterei hinwegsetzt, um das Böse in Gestalt von Heiden und Ketzern zu bannen oder zu exorzieren – natürlich nur bis zum nächsten Mal, denn man braucht die Bösen ja auch in Zukunft als Kinderschreck, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten und die Kinder, die unmündigen Untertanen, ins Bett zu scheuchen.

Worthülsen und Sprachregelungen

Zwar ist auch im Grundgesetz, das sich das Volk bekanntlich niemals als Verfassung selbst gegeben hat, die Tendenz zur „Wertedemokratie“ bereits angelegt, aber es wäre zu einseitig, in ihr lediglich ein Korsett der Siegermächte von 1945 zu sehen, schließlich wurden die materialen Werte – die christlich geprägten Wertvorstellungen –, aus denen sich die formalen Verfahrensweisen herleiten oder an denen sie ihre Grenze finden, damals noch von der überwältigenden Mehrheit eines kulturell weitgehend „homogenen“ Volkes geteilt, so daß Demokratie als Vollzug des Volkswillens aufgrund solcher Werte möglich war.

Heute sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben, und die „demokratischen Werte“ von Politik und Massenmedien sind unbegründete Worthülsen und Sprachregelungen, an die sich deren Verbreiter halten, solange es ihnen opportun erscheint – was wohl nicht mehr lange der Fall ist, denn immer mehr Wortführer orientieren sich schon wieder an „neuen Werten“.

Immerhin dürfen wir der Bemerkung des stark von Nietzsche beeinflußten Milan Kundera aber auch entnehmen, daß es in der Geschichte keine abgeschlossenen Zustände gibt, daß gerade das Ideal nur im Übergang aufscheint, alles Verhärtete nur vorläufigen Bestand hat und neuer befreiender Auflösung erliegen muß.

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