Das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hält zur Einstimmung in die erste neujährliche Alltagswoche zwei Plädoyers von Andrian Kreye und Alain de Botton gegeneinander, denen es jeweils um die Berechtigung der menschlichen Grundgestimmtheiten Optimismus und Pessimismus geht. Ich schätze beide Autoren sehr, und so mag es eher an meiner problematischen Welt-Anschauung liegen, daß ich – als bekennender Schopenhauerianer – den Pessimismus-Essay als stärker und schlüssiger empfinde.
Botton baut seine Argumentation auf dem Stoizismus Senecas und dem Christentum auf. Seneca: „Welche Notwendigkeit gibt es, über Teile des Lebens zu weinen? Als Ganzes verlangt es nach Tränen.“ Tatsächlich schreibt das Christentum diesen Gedanken gewissermaßen darin fort, daß es den Menschen vor der Vermessenheit warnt, sich und seine Werke für vollkommen zu halten. Im Gegenteil: Menschliches wird stets mit dem Makel und der Schuld verbunden sein und im Irdischen letztendlich nicht erlöst werden.
Das ist religiös ebenso evident wie auch säkular angeschaut klar. – Kreye dagegen argumentiert mit den philosophisch-politischen Grundbeständen des neuzeitlichen, insbesondere amerikanischen Bürgertums. Der alttestamentarische Impetus, sich die Erde untertan zu machen, wurde nirgendwo so gnadenlos umgesetzt wie in Nordamerika, wo im „Just do it!“ alles machbar erschien und erscheint. Der Autor schließt sich dem „rationalen Optimismus“ Matt Ridleys an, der einen neuerlichen Beweis erbringen möchte, daß sich die Welt im Fortschritt entscheidend verbessert habe.
Typisch kapitalistischer Buchhaltergeist
Ist es so, daß die großen Pessimisten eher vom Wesenhaften, insofern vom Qualitativen ausgehen, von der Essenz, während die vorzugsweise amerikanischen Optimisten gern quantifizieren und quasi utilitaristisch nachzuweisen versuchen, mit welchen Mengen sich die Lebensumstände etwa in bezug auf Durchschnittseinkommen, Lebenserwartung und Lebensmittelproduktion verbessert haben? Offenbar ein typisch kapitalistischer Buchhaltergeist, der da wirkt. Indem Ridley auf diese Weise neuerdings auch die Rate der Gewalt geschichtlich durchgezählt hat, ist er der festen Überzeugung, sie hätte in den letzten fünfhundert Jahren weltweit kontinuierlich abgenommen, und insofern werde historisch vieles gut.
Mein Geschichts- und Kulturpessimismus, meine ich, hat mir nie das Leben verfinstert, sondern mich für seine Genüsse, gerade die einfachen und elementaren, empfänglich gemacht. Ich hatte mit den utopischen Optimisten meines untergegangenen sozialistischen Geburtslandes dieselben Schwierigkeiten wie mit den Apologeten der allein selig machenden Marktwirtschaft und der ihr vermeintlich angekoppelten „Freiheit“. Daß man sein Leben letztlich mit „Finanzderivaten“ und „Riester-Renten“ absichern kann, ist mir aus dem Innersten heraus fremd. Das Wissen, jeden Tag könnte der schlimmste Fall eintreten, macht mir als Kind des Kalten Krieges nicht etwa Angst, sondern erhöht sogar die Behaglichkeit, wenn es sich dennoch weiter lebt.
Mich wundert stattdessen der Optimismus der Neujahrs- und Weihnachtsansprachen, weil er aus meiner Sicht nur der legitime Versuch ist, eine Gesellschaft tantenhaft schönzureden, die in geradezu freudianischer Weise ihre existentiellen Problem rechnerisch, also wieder quantifizierend zu verschieben versucht, weil dem Menschen zur harten prinzipiellen Neubestimmung von Lebensumständen im Kleinen wie Großen immer der Mut fehlt und weiter fehlen wird, es sei denn, die direkte Not, die lt. Bloch das Denken lehrt, greife nach ihm.
Optimistische „Seinsgier“ als fataler Weg ins Nichts
Der Philosoph Ludger Lütkehaus hat in seinem Wälzer „Nichts“ einen wichtigen Satz formuliert, vielleicht etwas sehr gelehrt: „Nichtsvergessenheit, Nichtsangst und Seinsgier bilden ein ‘ontopsychologisches’, ‘ontopathologisches’ Syndrom. Und gerade damit arbeitet dieses Denken der Vernichtung und Selbstvernichtung zu. Das ist die – vielleicht tragische – Ironie der so seinsfixierten westlichen Seinsgeschichte.“ Trivial ausgedrückt meint das wohl wieder den stoizistischen und christlichen Gedanken: Gerade indem man sich, alles festhalten und besitzen wollend, auf Sein und Welt wirft, leistet man der gefürchteten Vergänglichkeit Vorschub, vor der man mit Genuß- und Lebensgier in die genau falsche Richtung zu fliehen versucht.
Wenn der Planet in einem riesigen Reproduktionskreislauf verwurstet wird, wenn jeder Trottel Kerosin verbrauchend um den Erdball jettet und immer alles an Waren zur Hand sein muss, dann ist diese optimistische „Seinsgier“ der fatale Weg ins Nichts, nicht nur im Sinne der griechischen Tyche, sondern schon rein physisch.
Heiner Müller, der mir als erster die dunkle Seite des vermeintlich lichten Sozialismus beschrieb, meinte: „Hoffnung ist etwas für Leute, die unzureichend informiert sind.“ Sicherlich ein hartes Bonmot. Aber mindestens der zweite Teil stimmt ja absolut: Die Leute sind nun mal schlecht informiert. Obwohl alle Informationen zugänglich sind, wird das Weltbild der meisten, gerade der Heranwachsenden, wieder ptolemäisch eng.
Freuen wir uns an dem, was noch übrig ist. Bewahren wir es. Genießen wir es aufmerksam und mit Würde wie Wertebewusstsein, denn es ist nicht selbstverständlich, daß es unsere Welt gibt und ihr wie uns alle Zeit bleibt.