Beim Stöbern auf dem elterlichen Dachboden stoße ich auf meine alte Erstkläßler-Lesefibel: „Fibelkinder 1“ von Anni Leißl, 1962 im Oldenbourg Verlag München erschienen und „für den Gebrauch an Volksschulen in Bayern zugelassen“. Der Vergleich mit der Fibel „Kunterbunt“ aus dem Leipziger Klett-Verlag (2003), mit der meine Kinder gerade lesen gelernt haben, drängt sich auf.
Leißls Fibel kommt überraschend modern daher. Die quadratische Broschur ist handlicher als das Quartformat im festen Einband der aktuellen – baden-württembergischen, nicht bayrischen – Fibel, und das Buch ist durchgängig farbig gestaltet mit Zeichnungen von Wimmelbilderbuch-Altmeister Ali Mitgutsch, die aus der Oldenbourg-Fibel ein echtes Kinderbuch machen. Heute gibt es mehr Fotos, man will den Kindern die Welt zeigen, doch bei der Qualität der Zeichnungen hat der Klassiker von 1962 noch heute die Nase vorn.
Mit Laut-, Lautpositionsübungen, Silbenerkennungs- und Zuordnungselementen hat man auch vor fünfzig Jahren schon gearbeitet. Interaktive Texte und Aufgaben, die Kinder zum Nachdenken und Selbstformulieren anregen sollen, nehmen in der modernen Fibel größeren Raum ein, und auf Wissensvermittlung wird mehr Wert gelegt. Auch ein Dürer-Bild, oder Fotoserien verschiedener Baum- und Vogelarten finden da schon mal Eingang in die Grundschulfibel. Dafür hat Leißls Fibel, bei der die Verfasserin ausdrücklich aus „altem Volksgut“ geschöpft hat, mehr Lieder zum Mit- und Nachsingen und verwendet viele Märchen.
Über christliche Leitkultur wurde nicht diskutiert, man hatte sie
Wäre allerdings seltsam, wenn sich die Grundschuldidaktik in einem halben Jahrhundert nicht verändert und auch weiterentwickelt hätte. Noch augenfälliger läßt sich der Wandel der Zeiten an Personal und Inhalt der Lesestückchen ablesen. 1962: Kasperl im blauweißen Rautenkostüm erlebt seine Abenteuer mit Evi, Otto, Uta, Peter, Heini, Hund Molli und Katze Muschi. 2003 ist Drache Niko die verbindende Figur, die Kinder heißen mal Lisa oder Timo, Sam oder Malte, Dennis oder Hakan.
Durchgegendert ist die Fibel aus den 1960er Jahren natürlich auch noch nicht, da bäckt die Mutter Plätzchen, die Kinder helfen, der Vater schaut in den Ofen. 2003 sind Max und Yussuf dicke Freunde und kochen zusammen deutsch-türkisch. Immerhin – Osterhase und Nikolaus haben vorerst noch ihren Platz in den Erstlesergeschichten. In den Sechzigern richtete man sich noch intensiv am christlichen Jahreskreis aus. Über Leitkultur mußte man da noch nicht diskutieren, man hatte sie.
Seit ich meiner kleinen Tochter – die in diesem Sommer die erste Klasse absolviert hat – die alte Fibel in die Hand gedrückt habe, sitzt sie Abend für Abend auf dem Sofa und verschlingt gebannt die Texte, die meine Grundschulkameraden und ich schon vor vierzig Jahren der Lehrerin vorbuchstabiert haben. So altmodisch und un-kindgerecht kann’s damals also auch nicht gewesen sein.