Heute sind Menschen allfällig der Meinung, den hiesigen Politikern etwas vorauszuhaben: die Einsicht und die Volksnähe, derer es bedarf, um das Staatsschiff sicher in den Hafen von Frieden, Wohlstand und innerer Geschlossenheit zu lenken.
Sammlung der Entflammten
Wer diesbezüglich einmal die Probe auf’s Exempel machen will, hat dazu im Internet mehr als genug Möglichkeiten – wo auch sonst? Hierin zeigt sich auch das enorme Interesse der Konsumenten an politischen Planspielen. Nicht von ungefähr handelt es sich bei dem Flaggschiff der „Politik-Communities“, dem forenähnlich organisierten „dol2day“ (kurz für „Democracy Online Today“), um eines der ältesten sozialen Netzwerke. Dort wird über frei auswählbare Themen diskutiert, deren Fokus eindeutig auf politischen und soziokulturellen Fragen liegt.
Bemerkenswert ist an „dol2day“ die Möglichkeit, sich mit anderen Spielern bzw. Nutzern zu Gemeinschaften im Sinne fiktiver Parteien zusammenzuschließen. Hier stießen und stoßen immer wieder – bei aller kybernetischen Anonymität – Charaktere aufeinander, deren Zusammenwirken enorme schöpferische Kräfte gebiert. Nicht zuletzt hat eine dieser sogenannten „Inis“ (für „Initiativen“) einstmals größere Wirkung im Umfeld der noch jungen Blauen Narzisse entfaltet.
Der Hypothese wahrer Kern
Wie im schnelllebigen „Web 2.0“ mittlerweile üblich, hat sich jedoch auch „dol2day“ bereits überlebt. Auch und gerade aufgrund des mitunter harschen Umgangs seitens der Moderatoren des Netzwerks mit patriotisch oder national ausgerichteten „Inis“ tendieren Diskussionsaktivität und Beteiligung inzwischen stetig gegen Null. Wie im Spiegelbild stellt sich hier die politische Realität unseres Landes dar – das ununterbrochene Niederwalzen eines jeden Ausbruchsversuchs aus den vorgefertigten „politischen Flußbetten“ schleift gleichzeitig das politische Profil jedes Einzelnen ab und läßt das Interesse an politischer Partizipation verkümmern.
Die classe politique ist ohne weiteres als Moderatorenteam eines Internetforums denkbar, die nur dann für alle sichtbar in Erscheinung tritt, wenn es um die „Bearbeitung“ ungewünschter Diskursinhalte geht oder aber maßgebliche Umgestaltungen an der Struktur der „Community“ vorgenommen werden sollen. Ansonsten bleibt man unter sich; für jede Nutzergruppe sind unterschiedliche Bereiche des Gesamtangebots einsehbar.
Dezisionismus – feiern oder feuern?
Wer sich dennoch akut berufen fühlt, seine staatsmännische Eignung zu überprüfen, dem sei zur neueren Plattform „Ars Regendi“ geraten. Bei der „Kunst des Herrschens“ (oder für Altphilologen: „Kunst, zu herrschen“) geht es allerdings nicht mehr nur um politische Diskussionen. Vielmehr hat man im kostenlosen Spiel sämtliche Belange des Staates, so auch die komplette Volkswirtschaft, eigenverantwortlich zu regeln.
Pro realem Tag vergeht im Spiel ein Quartal, in dem Entscheidungen zu treffen und Reformen anzustoßen sind. In jedem Winter bietet sich die Möglichkeit, umfassend in den Staatshaushalt einzugreifen und von der Einkommenssteuer bis hin zum Bildungsetat die Geldflüsse innerhalb des eigenen kleinen Reichs zu lenken. In verschachtelten Menüs versteckt, bieten sich dem geneigten Herrscher auch die schmutzigen Methoden der Macht. Wenn er es wünscht, kann er nicht nur Reden ans Volk halten oder Geschenke verteilen, sondern auch den totalen Krieg ausrufen oder in demonstrierende Menschenmengen schießen lassen.
Die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidungen werden durch lakonische, dennoch meist sehr amüsante Erklärungssätze verdeutlicht. Mit Aktionen, die auf das Wohlwollen des digitalen Volks treffen, gewinnt der Regent sich Punkte hinzu, die auf die weitere Formung des Staatswesens anwendbar sind. Außerdem wird – trotz faktischer Alleinherrschaft des jeweiligen Spielers – regelmäßig gewählt; wer sich bis zur Wahl kräftig unbeliebt gemacht hat, der muß sich danach einen neuen Staat erstellen, da ihn das Volk des Amtes enthoben hat.
Wo die Soziologie nicht hinreicht…
Für politisch interessierte, kritische Menschen dürfte jedoch vor allem ein kleines Detail faszinierend sein: Wenn man eine politische Entscheidung getroffen hat, wird angezeigt, wieviel Prozent der anderen „Ars Regendi“-Nutzer sich angesichts desselben Problems ebenso entschieden haben. Hin und wieder zeitigt diese Funktion die erstaunlichsten Ergebnisse. So zum Beispiel bei der möglichen Entscheidung, den Staat ablehnende politische Elemente in unwegsame Landstriche zu verbannen: Als Resultat vegetieren die Dissidenten in Eiswüsten und Sumpfgebieten dahin, aber: „65 Prozent der Benutzer haben genauso entschieden“.
Auch Inzest ist ein Thema. Laut der Plattform entschieden sich 34 Prozent der Nutzer dafür, die Geschwisterliebe nicht nur hart zu bestrafen, sondern Kinder grundsätzlich darauf zu untersuchen, ob es sich bei ihren Eltern um Blutsverwandte handelt – ein Resultat, das angesichts der scheinbaren „Anything goes“-Mentalität in der Bevölkerung gerade im Hinblick auf sexuelle Fragen wohl kaum jemand erwartet hätte.
… atmet und gestaltet es sich freier.
Einen Besuch sind derartige Staatslenker-Netzwerke auf jeden Fall wert. Nicht nur schärfen sie das Bewußtsein für die mannigfaltigen Bedingtheiten politischer Prozesse. Sie machen außerdem Spaß und entbehren nicht einer gewissen Selbstironie, die uns in den triefäugigen Krämergesichtern heutiger Politbüromitglieder so oft fehlt.
Letztlich gilt es, all die klugen Thesen vom Stammtisch oder aus dem verrauchten Hinterzimmer endlich einmal auszuprobieren. Viel kann nicht passieren, auch wenn die virtuellen Bürger schlimmstenfalls deutlich widerspenstiger reagieren, als dies vom Volk aus Fleisch und Blut vorerst zu befürchten wäre.