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Der Tränenpool der Marie France Pisier

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Der Tränenpool der Marie France Pisier

 

Der Tränenpool der Marie France Pisier

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Im Lungensanatorium „Berghof“, Spätherbst 1907: Hans Castorp sitzt im Speisesaal. Plötzlich knallt hinter ihm mit voller Wucht die Tür. Der junge Mann zuckt zusammen. Schnitt: Die Kamera zeigt die Urheberin des Schocks, Madame Chauchat. Majestätisch schreitet sie durch den Saal, ihr dunkelbraunes Haar am Hinterkopf haltend. Der Soundtrack läßt das düstere Leitmotiv erklingen.

Man weiß sofort: Diese Frau wird Castorps Schicksal. In der folgenden Nacht wird er von ihr träumen: Die Türen des riesigen Speisesaals öffnen sich von selbst, Madame Chauchat im hell-durchsichtigen Gewand, tritt langsam ein: Ihre Metamorphose zur Göttin in Castorps Unbewußtem ist vollzogen. Auch im Unbewußten des Zuschauers, der Hans Werner Geissendörfers „Zauberberg“-Verfilmung (1981) sieht.

Mythologisch inspirierte Romanvorlage von Thomas Mann

Bereits in Thomas Manns Romanvorlage ist die Figur der Russin Clawdia Chauchat mythologisch aufgeladen, Ihr Name, ausgesprochen wie das französische „chaud chat“ (heiße Katze), verweist auf „Läufigkeit“, auf ihr unruhiges Umherreisen. In Anlehnung an Wagners Kundry („Parsifal“) ist sie die weltumwandernde Verführerin.

Als Vorbild ihrer äußeren Erscheinung diente eine russische Tänzerin, über die Thomas Mann notierte: „Nach dem Abendessen (…) im Regen per Tram zu Kurt Wolf, wo die Russinnen  tanzten (…) Machte zum Schluß noch flüchtig die Bekanntschaft der mich am meisten interessierenden Tänzerin mit schiefen Augen, die (während der Aufführung) der eine Bogenschütze war. Sie hatte K´s Mutter von dem Moskauer Elend erzählt, dem sie mühsam entkommen war. Eine gute Mme. Chauchat.“ (Tagebücher, 17.VI.1920).

Das Gesicht der Madame Chauchat

Seit dreißig Jahren aber hat Madame Chauchat ein Gesicht. Unmöglich ist seitdem die Romanlektüre, ohne Marie France Pisier vor Augen zu haben. So wenig, wie Scarlett O‘Hara von Vivien Leigh oder William von Baskerville von Sean Connery abzulösen sind. Madame Pisier besaß jenes elegant Geheimnisvolle, Unnahbare, in dem jeder Mythos wurzelt. Das den verliebten Hans Castorp im Ozean der Zeit versinken und sieben Jahre auf ihre Rückkehr warten ließ. Als Pfand besaß er nur eine „Porträt“, das Röntgenbild ihrer kranken Lunge. Und eine Liebesnacht mit Clawdia beherrscht seine Erinnerung: Ein „Traum von Liebe“, den er erst in der „Fiebersbrunst“ des Ersten Weltkriegs, als Soldat im „Weltfest des Todes“ wiederfinden sollte.

Die Frau, die mit Madame Chauchat kongenial verschmolz, betrat 1944, als Tochter eines Kolonialgouverneurs in Indochina (Vietnam), die Welt. Obschon seit dem zehnten Lebensjahr Bühnendarstellerin, entschloß sie sich für ein Studium der politischen Okönomie und der Rechtswissenschaften. Ein Vorhaben, das kein Geringerer als ?François Truffaut durchkreuzte. Der besetzte sie für den Kurzfilm „Antoine et Colette“ (1962). Eine Karriere begann, erst als Schauspielerin, dann auch als Regisseurin und Romanautorin.

Vor der Kamera verkörperte sie unausweichliches Schicksal

Zweimal gewann Marie France Pisier den französischen Darstellerpreis „César“, interpretierte Filmrollen in Luis ?Buñuels „?Le Fantôme de la liberté“ (Das Gespenst der Freiheit“, 1974), Alain Robbe Grillets „Trans Europ Express“ (1966) oder in Jacques Rivettes „?Céline et Julie vont en bateau“ (?Céline und Julie fahren Boot, 1974), an dessen Drehbuch sie beteiligt war. Auch darin umwehte sie, als Giftmörderin Sophie, eine Aura des Rätselhaften, jene „geheimnisvoller Ausstrahlung“, von der Thriller Regisseur Yves Boisette schwärmte. Vom Spätwerk ist vor allem ihre George Sand in Andrej Zulawskis „Chopin“-Filmbiographie (1991) zu erwähnen, und der autobiographische Roman ?“Le bal du gouverneur“ (1990) über ihre Kindheit in Indochina.

Selten gingen intellektuelle Ausrichtung und (darstellerische) Ausstrahlung so unterschiedliche Wege wie bei ihr. Regisseur Francois Truffaut beschrieb sie als Existenzialistin ?à la Sarte und Beauvoir. Vor der Kamera aber verkörperte sie keine Freiheit des (Selbst-)Entwurfs, sondern unausweichliches Schicksal, die Übermacht des Begehrens. 1968 soll sie zusammen mit Daniel Cohn-Bendit auf die Pariser Barrikaden gegangen sein, ihre Filmfiguren hingegen sind aristokratisch, unnahbar.

Sie wollte träumend sterben

Der Geist „links“, die Intuition „konservativ“, so könnte es ein Dualismus des 20. Jahrhunderts pointieren. Vielleicht erfasste sie selbst diese Differenz in der Festellung, daß Träumen und Denken durchaus miteinander kompatibel seien. Außerdem, erklärte sie an anderer Stelle, wolle sie träumend sterben. Vielleicht ist ihr das gelungen, denn der Tod der sphinxhaften Schauspielerin ist nebulös, irrational wie ein Traum.

Zumindest nach dem Bericht der Marseiller Forensik: In der Nacht zum Ostersonntag verstarb die 66jährige im Swimmingpool ihres Hauses im ?südfranzösischen Saint-Cyr-sur-Mer. In Stiefeln, verstrickt in einen schweren, schmiedeeisernen Stuhl, saß sie am Grunde des Pools. Ihr Mann will, nach gemeinsamem Abend auf der Terrasse, mit Beginn eines Regenschauers, in Haus gegangen sein. Um 4 Uhr morgens fand er ihren Leichnam im Pool.

Wenn Freude Selbstmord ausschließen, war es Selbstmord

Hatte sie sich, bei vollem Regen, an den Poolrand gesetzt, sich in den Eisenstuhl verschlungen und ist dann ins Wasser gestürzt? Erste Analysen zeigten, daß der Tod nicht durch Ertrinken, sondern vorab eintrat. Die Polizei wartete auf weitere forensische Resultate, schließt Mord aber aus, fand keine Spuren von Gewaltanwendung. Natürlich wollen Freunde und Angehörige auch von Selbstmord nichts wissen: Zwar kämpfte Marie France Pisier seit Jahren gegen einen Brustkrebs, aber despressiv

Nein, wie kommt man bloß darauf? Hatte sie doch zahlreiche Pläne für die nächste Zeit. Voller Tatendrang war sie… Merke: Wenn Freunde oder Angehörige einen Selbstmord ausschließen, ist zu 99,9 Prozent sicher, daß es einer war! Nicht allein, daß man reichlich Alkohol und Antidepressiva im Körper fand. Schon 2002 antwortete Madame Pisier im berühmten Proust-Fragebogen auf die Frage, wann sie „das letzte Mal geweint“ habe: „Es war an einem Pool in Miami vor drei Jahren. Ich dachte, ich bringe den Pool mit meinen Tränen zum Überlaufen.“

Der Pool als Ort der Verzweiflung, des Überlaufens an Leid. Der Zeitpunkt des Todes: Einen Tag nach Karfreitag, bei nächtlichem Regen. Das klingt weniger nach Zufall als nach dramatisch inszeniertem Finale. Erinnert an den Doppelselbstmord, den Kleist und die ebenfalls krebskranke Henriette Vogel vor genau 200 Jahren zelebrierten. Auch da wurden geistig schlichtere Mitmenschen vorab nicht eingeweiht. Die inszenieren nach Tragödien nämlich stets bizarre Satyrspiele.

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