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Archaisches aus der Seitenstraße

Archaisches aus der Seitenstraße

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Wer Hühnerfarmen mit Bodenhaltung besucht, erlebt Massen von Federvieh, auf (zu) engem Raum gedrängt, übernervös, wild um sich hackend, im verzweifelten Versuch, hochzuflattern, dem Übermaß an Nähe zu entkommen. Das bietet nicht nur Lehrstunden über obszöne Tierquälerei, sondern auch in moderner Großstadt-Soziologie. Das dicht gedrängte Treiben in Metropolen, dem globalen Lebensmodell der Zukunft, fordert permanente Aufmerksamkeit bei zunehmender Beschleunigung von Arbeits- und Lebenstempo.

Angetrieben von anonymen Ängsten, dirigiert von tausend (Verkehrs-)Regeln, da genügt eine Sekunde Unaufmerksamkeit, eine – oft nur imaginierte – Provokation, ein vorschnelles Hupen: Sofort explodieren Material und Seele. Wie kürzlich in einer Kreuzberger Seitenstraße. Ein Auto und ein Motrorrad kamen sich entgegen, fuhren aneinander vorbei. Alles gut, aber eine ungeklärte Winzigkeit führte beim Motorradfahrer zum Wutanfall. Als das Auto wenige Meter weiter vor einer Ampel hielt, bremste auch er, stieg gemächlich von seinem Gefährt, spazierte langsam zum Auto, holte weit aus und zertrümmerte mit einem Faustschlag die Seitenscheibe.

Sie öffnete den Mund zum stummen Schrei

Die Scherben mußten das Gesicht des Fahrers verletzt haben, denn ein Blutfluß rann über seine Wange. Die Beifahrerin, nicht zur Seite schauend, riß die Augen weit auf, öffnete den Mund zum stummen Schrei. Schockreaktion. Nach dieser „Revanche” stiefelte der Motorradfahrer zu seinem Fahrzeug zurück und fuhr davon. Passanten eilten herbei, zückten Mobiltelefone, riefen die Polizei und stritten über das korrekte Kennzeichen des Motorrads.

Auffallend war, daß besagte Beifahrerin kaum Interesse für ihren stoisch-verletzten Mann aufbrachte, ebensowenig für den eigenen Schock, dafür umso mehr um ihre beiden Kinder bangte, die den Anschlag vom Rücksitz aus verfolgt hatten. Daß die Kleinen weder verletzt noch verstört wirkten, schien sie nicht zu irritieren: „Das kann man doch nicht machen…Wo doch Kinder dabei sind!” rief sie mehrfach. Dieser ins Hypochondrische gesteigerte „Brutinstinkt” sorgte nach dem Schrecken über die Gewalttat für zusätzliches Unbehagen.

Ein Melancholiker würde die Scheidung einreichen

Nicht alleine, daß auf Opfer erdrückender Übervorsorge schon bald ein Therapieplatz wartet, nein, es geht um die Beziehung der Eltern: Sollte der Verletzte kein Verdrängungstalent besitzen, wird er sich die eigene Belanglosigkeit (für die Partnerin) eingestehen müssen. Ein Melancholiker hätte sich nach solchem Erlebnis wohl scheiden lassen.

Die erbärmliche Gewalt des Motorradfahrers ließ eine archaische Struktur menschlicher Existenz grell aufscheinen: Daß Liebe, Eros und alle romantische Vision, die den Menschen überreden, ?seiner Gattung durch Fortpflanzung zu dienen – daß sie allesamt nach vollbrachtem Dienst verschwinden. Das ernüchterte Individuum begreift, daß es „mit jeglicher  Aufopferung einem Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war” (A. Schopenhauer: Metaphysik der Geschlechtsliebe).

Kinderkult gegen die Kurzlebigkeit des Eros

Dieser Verlust, die Leere, die er hinterläßt, findet Kompensation oft in erstickendem Kinderkult, der im Prenzlauer Berg derzeit eine heilige Stätte besitzt. Hier muß der arme Nachwuchs so ziemlich jeden Lebenssinn ersetzen. Wie sonst aber wäre solche Tragik auszuhalten? Wie sonst kann sich der Mensch gegen die Kurzlebigkeit des Eros erfolgreich wehren? In Jean Luc Godards „Rette sich, wer kann (das Leben)” mißtraut ein Filmregisseur (Jacques Dutronc) der Haltbarkeit purer Leidenschaft, will sie deshalb mit gemeinsamen Tun verbinden, so ihre Dauer etablieren. Natürlich scheitert er damit, verliert die Freundin und Tochter zugleich.

Die Trinität „Liebe – Arbeit – Kino” platzte, der Regisseur wird vom Auto überfahren. (Bei Godard führt das Ende der Liebe oft zu Autounfällen, eben weil der Straßenverkehr eine unschlagbare Metapher des modernen Lebens darstellt.) Seine Freundin (Nathalie Baye) hingegen erkennt, daß alles Leben sich gegen Leere und Routine wehrt, daß jede unvorhergesehene Bewegung dazu dient,dem routinierten Zeitfluss zu entkommen. Ja, aber genau damit löst man Verkehrsunfälle aus, die tragische Lebensstrukturen erst recht ans Licht zerren…

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