Es ist in der Gegenwart zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden, das christliche Mittelalter und sein überkommenes Erbe als eine Ansammlung von Verbrechen zu betrachten. Zu diesen zählen auch die sogenannten „frommen Lügen“ schriftkundiger Mönche. Ganze Legionen von ihnen nutzten die besondere Stellung innerhalb einer weitgehend analphabetischen Gesellschaft aus, um Abertausende von Dokumenten in ihrem Sinne zu ändern.
Von plumpen Fälschungen mit fehlerhaften Siegeln bis zur raffinierten Umgestaltung historischer Originalurkunden, vom kleinen Acker, der dem Kloster des Schreibers vererbt wird, bis hin zur berühmten „Konstantinischen Schenkung“, die gleich ganz Westrom annektierte – so manches Gut wurde dem großen Magen der Kirche überantwortet. Heute sieht man darin gerne den Beweis für einen bis ins Mark korrupten Klerus.
Was allerdings häufig übersehen wird, ist das gute Gewissen der Täter. Denn ein christlicher Mönch des Mittelalters war der festen Überzeugung, einer allein seligmachenden Institution zu dienen, die es mit allen Mitteln zu fördern gelte. Er fälschte daher nicht, er korrigierte die Wirklichkeit. Denn geschah es nicht häufig genug, daß eine streitsüchtige Ritterschaft sich einfach Land und Hof nahm und das Recht der Kirche mit Füßen trat?
Nein, nicht der Schreiber, die Welt war im Unrecht und er heilte sie. Selbst dem geschädigten Ritter, dessen Ahne in einem Anfall von Frömmigkeit seinen Besitz dem Klerus vermacht haben soll, selbst diesem half der Schreiber. Denn dieser Ritter, in Stumpfsinn gefangen, war doch gar nicht in der Lage, die Wahrheit zu erfassen. Wie sollte er da seine Seele vor dem Fegefeuer retten können? Der weise Mönch tat es an seiner Statt.
Fromme Lügen in der säkularen Gesellschaft
Warum das für uns interessant ist? Weil wir selbst in einer Zeit der frommen Lügen leben. Äußerlich mag unsere Gesellschaft säkularisiert und furchtbar fortschrittlich sein. Tatsächlich werden aber jeden Tag Lügen über Lügen über uns ausgeschüttet. Man muß nur den Fernseher einschalten oder ein beliebiges Massenblatt aufschlagen, schon streckt sich eine fürsorgliche Hand aus, die einen sicher durch den Tag geleitet.
Schweigen, Täuschen, Lügen – wie damals, so sitzen auch heute Legionen von kleinen Schreiberlingen an ihren Tischen, die uns vor schädlichen Einflüssen schützen und behüten möchten, wieder nur um unser Wohlergehen besorgt. Denn wir seien doch gar nicht in der Lage, aus dem, was wir für Wahrheit halten, selbständig die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dazu sind wir doch zu sehr in Stumpfsinn gefangen.
Würde die ungefilterte Kenntnis auf uns einprasseln, was der Preis für das Menschenexperiment namens Multikulturalismus ist; würden wir uns all der anmaßenden Frechheiten, der ständigen Erniedrigungen und der rohen, brutalen Gewalt bewußt werden, der wir und vor allem unsere Kinder jeden Tag ausgesetzt sind – wir könnten das nicht verstehen. Wir könnten keine Notwendigkeit darin sehen, was gleich einer biblischen Plage über uns gekommen ist.
Nein, wir würden es nicht verstehen. Denn wir sind gar nicht in der Lage zu begreifen, was der Sinn dieses Experimentes ist, zu erkennen, welch geringen Preis wir in Wirklichkeit zahlen. Statt dessen würden wir in unserer streitsüchtigen Dummheit nur zu der Meinung verführt werden, daß mittelalterlichen Kulturen mit mittelalterlichen Methoden begegnet werden muß. Das wäre dann freilich das Ende des menschheitsbeglückenden Experimentes.
Darum brauchen wir die Priester der Lüge: weil wir nicht in der Lage sind zu erkennen, daß es „zur Integration keine Alternative“ gäbe und wir daher unsere Nacken noch tiefer neigen, uns noch tiefer vor einer Kultur bücken müssen, die auf uns und die Zukunft unserer Kinder nichts gibt. All das würden wir nicht verstehen. Vor allem aber würden wir nicht verstehen, warum wir als Volk sterben müssen, um unser aller Seelenheil zu retten.
Christliche Überwindung der frommen Lügen
Nikolaus von Kues (1401-1464) überwand das Prinzip der frommen Lügen. Wahrheit, so argumentierte er, kann für den Menschen nie abgeschlossen sein. „Unser Verstand“ so schreibt er in seiner „Wissenschaft des Nichtwissens“, erfasse die Wahrheit nie so genau, „daß nicht ein unendlich genaueres Erfassen möglich wäre, er verhält sich zur Wahrheit wie das Polygon zum Kreise. Mögen auch der Winkel noch so viele gemacht werden, so wird doch das Polygon nie dem Kreise gleich.“
Daraus folgt, daß Wahrheit kein Besitz ist, den Menschen einem höheren Sinne gemäß verwalten dürfen. Dementsprechend zeigte Nikolaus mit philologisch-wissenschaftlichen Methoden auf, daß die Konstantinische Schenkung nur eine Fälschung sein kann. Er gilt daher nicht nur als einer der bedeutendsten Denker der Kirche, sondern zugleich auch als erstes, großes Gestirn einer Entwicklung, die man heute als „Aufklärung“ bezeichnet.
Eine Aufklärung im besten Sinne, welche die Worte Christi zutiefst ernst nimmt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh. 8,32)
Wir Heutige dagegen sollen Sklaven sein: Sklaven, die durch Lügen erzogen werden.