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Verräter

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Die Berliner Zeitschrift für Geschichtswissenschaft gibt in ihrer neuesten Ausgabe sechzehn Seiten frei, auf denen Kurt Nelhiebel eine Attacke auf Manfred Kittels angebliche „Entkoppelung von Krieg und Vertreibung“ ausbreiten darf. In Nelhiebels Argumentationsgang treten dabei die altbekannten Kausalitäten auf.                                                                                                                        
Eine Verantwortung der Vertreiberstaaten für die Vertreibung existiert darin nicht, eine Vorgeschichte der Vertreibungsplanung in Polen und der Tschechoslowakei vor 1939 ebenfalls nicht. Statt dessen wird das Interpretationsmuster „Restaurationsära Adenauer“ bemüht, wobei auch Namen wie Globke oder Oberländer wieder fallen, die unverzichtbaren Versatzstücke der Agitation seit einem halben Jahrhundert. Kittel seien als neu ernanntem Direktor der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ neue Möglichkeiten zugewachsen, stellt Nelhiebel fest, was wohl auch der eigentliche Anlaß für seine Polemik sein dürfte.                                                                       
Dazu muß man nichts sagen. Zu einem anderen Punkt schon. Nelhiebel verwahrt sich gegen einen Vergleich zwischen dem Verrat der Politiker Tomáš Masaryk und Edvard Beneš an der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg und dem Verrat Konrad Henleins an der Tschechoslowakei im Jahr 1938.

Scheinrechtfertigung der Vertreibung

Eine solche Wertung müsse auf „Unkenntnis“ beruhen, meint er und versucht sich damit daran, den vielbemühten Punkt der Scheinrechtfertigung der Vertreibung der Sudetendeutschen in der Debatte zu halten: ihre angeblich besondere Untreue gegen den tschechischen Staat. Beinahe jede nationale Unabhängigkeitbestrebung der Welt hat zu Verrat an der etablierten Ordnung gegriffen. Die Sudetendeutschen gehören zu denen, denen man bis heute einen Strick daraus zu drehen versucht.

In der Tat liegt hierzulande eine gepflegte Unkenntnis über den von den Alliierten zu Kriegszwecken eingesetzten Verrat Masaryks und Beneš vor. Die Illoyalität der beiden sollte das Habsburgerreich vernichten helfen, dazu wurden sie ausgewählt und gefördert. Was die Regierung des Britischen Empire, die dies tat, von nationaler Unabhängigkeit im Prinzip und insbesondere im eigenen Herrschaftsbereich hielt, zeigten die gleichzeitigen Hinrichtungen unter der politischen Führung der irischen Unabhängigkeitsbewegung und die Erweiterung der Kolonialgebiete nach 1919.

Nicht, daß die Mittelmächte nicht ähnlich agiert hätten. Auch der Erste Weltkrieg trug bereits Züge eines europäischen Bürgerkriegs, und dazu gehörte die fehlende Loyalität mancher Bürger nationaler Minderheiten, die zu einem realen politischen Wettbewerb und vermeintlich vorbeugenden Grausamkeiten führte.

Von russischen Truppen erschlagene Juden

Teile der litauischen, ukrainischen und auch polnischen Nationalbewegung suchten deutsch-österreichische Unterstützung und fanden sie. Der Verratsvorwurf folgte auf dem Fuß. Die jüdischen Organisationen in der damaligen Hochburg des weltweiten Antisemitismus, dem russischen Zarenreich, begrüßten den deutschen Einmarsch als Chance zur Befreiung. Die polnisch-russischen Juden wurden deshalb von der russischen Seite als potentielle Verräter deportiert, etwa einhunderttausend von ihnen durch russische Truppen erschlagen.

In der Türkei ermordete man dagegen gleichzeitig die christlichen Armenier als potentiell verräterische Russenfreunde und konnte nur durch massiven deutschen Druck daran gehindert werden, das gleiche mit der meist russisch-jüdischen Gemeinde in Palästina zu tun.

Verrat ist weniger eine Frage des Datums, wie Talleyrand einst meinte, sondern eine Frage des dauerhaften Erfolgs. Dann erscheint er irgendwann als gerechtfertigt. Die Gründung der „Tschechoslowakei“ im Jahr 1919 firmiert inzwischen unter der Rubrik nationale Selbstbestimmung, obwohl die Tschechoslowakei zur Zeit ihrer Gründung allenfalls ein fader Nebel solcher Art umwehte.

Die Pariser Friedenskonferenz zwang Ukrainer, Ungarn, Polen, Tschechen, Slowaken und Deutsche in eine rein aus geopolitischen Zwecken zur Schwächung Deutschlands und Ungarns erdachte Staatskonstruktion zusammen, eine „europäische Unmöglichkeit“ (Józef Pi?sudski). „Tschechoslowakei“ bedeutete für einen großen Teil der Staatsbürger keine Selbstbestimmung, sondern Leben unter Okkupation.

Abhängigkeit vom englisch-französischen Wohlwollen

Über die innere Schwäche dieses Konstrukts und seine fortdauernde Abhängigkeit vom englisch-französischen Wohlwollen wußte auch Beneš Bescheid. Er bestach zur politischen Landschaftspflege in London englische Politiker und Journalisten mit Summen in der Größenordnung von Jahresgehältern und fühlte sich 1938 stark genug, den Sturz Neville Chamberlains organisieren zu wollen.

Der war wenig begeistert, als ihm der eigene Nachrichtendienst auf der Münchener Konferenz als Beweis abgehörte Telefonate vorlegte. Chamberlain hatte auch deshalb wenig Neigung, den 1938 von Beneš gemachten Vorschlag zur Austreibung von einer Million Deutschen aus der Tschechoslowakei nachzukommen.

Mit dem Rest der Deutschen glaubte Beneš nach einer ergänzenden Grenzkorrektur dann allein fertigwerden zu können. Es existiert eben tatsächlich keine Verbindung von Krieg und Vertreibung, die 1939 allein von Deutschen ausgegangen wäre. In Beneš’ Vision vom tschechischen Staat spielten Umsiedlungen bereits vorher eine Rolle.

Dies alles sagt uns manches über Imperialismus, Nationalismus, Vertreibungspläne, Mord und Verrat in der Weltkriegsära, die erst Geschichte sein wird, wenn alle Täter, Vertreiber und Verräter als solche benannt sein werden, auch die tschechischen. Erst dann wird man auch die Taten bewerten können. Zweifellos verdienen es manche Zustände, daß sie verraten werden.

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