Berlin, im Herbst 1799: Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte grübelt über die Frage der menschlichen Freiheit – wie kann das Individuum in seinem Willen frei sein, wenn es von der Außenwelt abhängig ist? Zumal alle Naturbeobachtung lehrt, daß keine Wirkung ohne Ursache ist. Wo aber das Kausalgesetz regiert, kann es keine Freiheit geben – läßt sich jede Entscheidung oder Handlung auf einen Auslöser zurückführen.
Eine solche Determinierung schien dem Moralphilosophen Fichte jedoch inakzeptabel. Schließlich kam er zu der Lösung: Die Welt außerhalb des Ichs kann mich nicht determinieren, weil sie gar nicht existiert! Sie besteht nur aus Anschauungen, aus Bildern, die das Ich selbst hervorbringt.
Wir leben also in einer eigenproduzierten Schein- und Bilderwelt. Jedes Ich erzeugt sich eine „Matrix“. So weit, so metaphysisch. Aber wer ist dieses imaginierende Ich? Schaut man genauer hin, läßt sich nämlich nicht sagen: „Ich denke“, sondern nur: „es wird (in mir) gedacht“. Wie die Außenwelt ist auch mein Innenleben – meine Gedanken, meine Emotionen – nur irreale Wahrnehmung: „Es erscheint der Gedanke: daß ich empfinde, denke, keineswegs aber: ich empfinde, schaue an, denke. Nur das erste ist Factum; das zweite hinzu erdichtet“.
Vom Leben emotional überfordert
Lediglich ein Bild meiner mentalen Funktionen existiert, mein sogenanntes „Ich“ ist eine Illusion. Alles erweist sich als Traum oder Bild: die (Außen-) Welt, aber auch mein eigenes Ich. Fichte verliert den Boden unter den Füßen, rutscht ängstlich hinab ins Nichts der Bilder. Die „sind das einzige, was da ist (…) Bilder, die vorüberschweben (…) ohne Bedeutung und Zweck“. So verliert die Welt während der Freiheitssuche jegliche Substanz.
Es ist schon erstaunlich, daß dieser Denker heutzutage zum alten Eisen zählt, keiner Beschäftigung mehr wert scheint. Sind doch Theoretiker des Virtuellen wie Jean Baudrillard, der die Welt in medialer Bilderflut verschwinden sieht, knietief in seiner Schuld. Wobei Fichte sogar noch weiter geht: Für ihn verschwindet die Welt nicht erst im medialen Bilderstrom, sondern es hat sie nie gegeben.
Selbst der vielleicht radikalste Underground-Filmer, Andy Warhol, ist letztlich ein Epigone Fichtes. Während der deutsche Philosoph die „Realität“ mittels Reflexion auslöschte, wählte Warhol die filmische Meditation. Vom Leben emotional überfordert, wollte der Popart-Künstler „eine Maschine sein“. Deshalb liebte er „langweilige Dinge“, weil deren Ödnis die Devitalisierung, die Reduktion auf Körper-Mechanik vorantrieb.
Zermahlen des Kaugummis
Dieses Programm fand seinen Höhepunkt in Frühwerken wie „Empire“ (1964), ein achtstündiger Blick auf das legendäre Empire State Building – aus einer einzigen Perspektive, ohne Zoom oder Kamerabewegung. Schon minutenlange Ausschnitte auf Warhol-Retrospektiven oder im Internet sind den meisten Zuschauern unerträglich.
Warhol aber diente das Frühwerk zur besagten Meditation: Er sah die Filme nachts in seiner New Yorker „Factory“, auf weißes Tuch projiziert – unbeweglich hinter seiner Sonnenbrille sitzend, abgefüllt mit Beruhigungspillen. Einziges Lebenszeichen: das mechanische Zermahlen des Kaugummis. So versank er in das monotone Filmbild, das den Emotionen und Bewußtseinsströmen alle Nahrung entzog.
Wie bei Fichte reduzierte sich die Welt auf ein (Ab-) Bild von Realität … Schließlich hörte das Kaugummimahlen auf: Warhol war eingeschlafen, eingetaucht in eine Dimension, in der Ich und Bilder gleichermaßen verlöschen. Vielleicht ist Film ja doch „eine Art des Denkens“, wie Gilles Deleuze einst spekulierte. Dann wäre Fichte ein Vordenker dieses Mediums.