Wenn sich bei städtebaulichen Fragen in Deutschland Modernisierer und Traditionalisten gegenüberstanden, hatten bislang – und nicht erst seit 1945 – erstere die Nase vorn. Das Ergebnis sind oft sterile, langweilige Neubauten, die ihre Insassen auf Produzenten- oder Konsumentenstatus, in beiden Fällen also auf ökonomische Aspekte, reduzieren.
Hinzu kommen ideologische Ausrichtungen wie die Bevorzugung von Glas als Baumaterial, weil dieses durch seine Transparenz – wie im Falle der den wilhelminisch-imperialen Reichstag überwölbenden (und „übertrumpfenden“) Kuppel – einer Demokratie besonders gemäß sei.
Glas ist zudem ort- und zeitlos; es ist überall gleich, altert nicht (sondern geht auf einen Schlag kaputt) und reduziert die Architektur durch seine politisch erwünschte Ausdrucks- und Geschichtslosigkeit auf ihre reine Funktionalität, die kaum noch Identifikation, sondern allenfalls Bespiegelung und damit postmoderne Selbstreferenzialität ermöglicht.
Gelungene Verbindung von Altem und Neuem
In letzter Zeit haben die Traditionalisten aber einige spektakuläre Siege über die Modernisten erringen können – in erster Linie ist hier an den Neubau des Berliner Stadtschlosses, aber auch an die geplante Rekonstruktion eines Gebäude-Ensembles der Frankfurter Altstadt zu denken –, allerdings entpuppen sich diese scheinbaren Rückbesinnungen, die in den Medien als Signale einer geschichtspolitischen Wende beklagt oder (äußerst selten) begrüßt werden, als faule Kompromisse.
Letztlich handelt es sich doch um moderne Bauten, an denen lediglich einige historisierende Versatzstücke angebracht werden, womit man innerhalb der postmodernen Zitierkultur verbleibt; eine gelungene Verbindung von Altem und Neuem wie beim Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche unter Verwendung alter, geschwärzter Steine ist die Ausnahme.
Verwunderlich ist dies nicht; zum einen sind wirkliche Rekonstruktionen meist unbezahlbar und infolge verlorenengegangener Kunstfertigkeit kaum noch machbar, zum anderen leidet der Oberflächentraditionalismus daran, meist nicht zu wissen, was überhaupt rekonstruiert werden soll, womit er gegenüber dem Modernismus, der immerhin über eine starke ideologische Stoßrichtung verfügt, im Nachteil ist.
Widerstand des konservativen Bürgertums
Niemals stand die Architekturgeschichte still; der Renaissance war die Gotik ein barbarisches Gräuel (obwohl erstere natürlich keine Wiedergeburt der Antike und letztere keinen Rückfall in angebliche „nordische Barbarei“ darstellte), der Historismus der Gründerzeit galt unter Intellektuellen einhellig als kulturlos, und der Jugendstil wurde von den Avantgarden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Ausdruck spätbürgerlich-reaktionärer Natursehnsucht und Fortschrittsverweigerung verdammt.
Auch das uns heute so authentisch, deutsch und mittelalterlich anmutende Fachwerk war im neunzehnten Jahrhundert der Feindschaft der Klassizisten ausgesetzt, worauf der Architekt Jo Franzke jüngst in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau hingewiesen hat: Der Frankfurter Stadtbaumeister Johann Georg Christian Hess schrieb 1909 in einer Bausatzung im Auftrag des Großherzogs Carl Theodor von Dalberg den Klassizismus verbindlich vor, doch die geplanten Neuerungen in der Altstadt scheiterten am Widerstand des konservativen Bürgertums; lediglich bei repräsentativen Neubauten wie der Paulskirche (1833) konnte sich der ahistorische klassizistische Stil durchsetzen.
Ausdruck der jeweiligen Mode
Goethe, bekanntlich der oberste Repräsentant deutscher Kultur, stand auf der Seite der Modernisierer und ließ in Faust II seinen Mephisto über „krummenge Gäßchen“ und „steile Giebel“ spotten. Heute gilt der Klassizismus ebenso als Erbe vergangener, schönerer Zeiten wie die von ihm so erbittert bekämpfte Fachwerkarchitektur, deren frühere Beliebtheit mit der günstigen Verfügbarkeit von Holz und Lehm zusammenhing.
In seiner Verwirrung vor dem steten Fluß der Geschichte weiß der Attrappentraditionalist gar nicht, warum überhaupt etwas rekonstruiert werden soll – er will ein Schloß, aber um Himmels willen keinen Kaiser. Auch der jeweils letzte Zustand vor Zerstörung oder Abriß war schließlich immer ein Ausdruck der jeweiligen Mode oder Bedürftigkeit. Oder gibt es vielleicht doch Baustile und Blütezeiten, in denen sich das Wesen einer Kultur offenbart?