Neben dem demographischen Wandel und der problematischen Tendenz zur Islamisierung städtischer Räume droht eine bereits seit längerem spürbare, mittlerweile aber immer klarer zu belegende sprachliche Degenerierung, die in der kulturellen Mitte der Gesellschaft und eben nicht nur an deren Rändern stattfindet.
Ein Viertel aller deutschen Grundschüler kann bereits nicht mehr die Minimalanforderungen im Lesen und Schreiben erfüllen. Dieses Desaster ist vor allem Folge einer allzu experimentierfreudigen Grundschule, die meint, das Schreibenlernen könne allein spielerisch und kindlich entdeckend erfolgen.
Was hier so gut klingt, ist gefährlich. Gerade die von Eltern mitbegründeten und von der evangelischen Kirche behausten Schulen in Norddeutschland propagieren unterm werbeträchtigen Etikett pauschaler „Reformpädagogik“ vehement und ausschließlich das „Schreibenlernen nach Gehör“. Die Ergebnisse dieses vermeintlich kinderfreundlichen phonetisch erworbenen Schreibens sind nie wissenschaftlich belastbar getestet worden, sondern finden sich nur in manipulierten Statistiken der selbstgerechten Reformer.
Dogma der „Vereinfachten Ausgangsschrift“
Daher warnt die Augsburger Wissenschaftlerin Angela Enders („Verlust der Schriftlichkeit“) seit Jahren vor einer kaum mehr auszugleichenden Beschädigung der Schreib- und Lesefähigkeiten durch die phonetische Methode, die auf den Schweizer Lehrer Jürgen Reichen zurückgeht. Es verwundert, daß gerade Eltern aus dem intellektuellen beziehungsweise bürgerlichen Milieu in argloser Kritiklosigkeit ihre Kinder in freien Schulen anmelden, deren Methoden aber nicht kritisch prüfen.
Der Siegener Sprachwissenschaftler Wolfgang Steinig weist in seiner Studie „Schreiben im diachronen Vergleich/Texte von Kindern 1972 und 2002“ zudem nach, daß selbst Schüler aus sozial schwachen Elternhäusern Anfang der siebziger Jahre in den später so geschmähten dreigliedrigen Schulen inhaltlich ergiebiger und orthographisch sicherer schrieben als heutzutage. Für die Grundschüler der zentral geführten DDR-Schulen mit ihrer stark systematisch ausgeprägten Muttersprachausbildung dürfte das sogar in noch höherem Maße zutreffen.
Statt endlich den profunden Einwendungen von Enders und Steinig im Sinne guter Kompetenzentwicklung Gehör zu schenken forcieren die Kultusbehörden weiterhin wildes Experimentieren. Ähnliches trifft auf den physisch-ästhetischen Aspekt des Schreiberwerbs zu. Der couragierte und hochverdiente Kritiker der Rechtschreibreform Professor Theodor Ickler wendet sich gegen das Dogma der „Vereinfachten Ausgangsschrift“, mit der „einige ihrer Erfinderinnen gute Geschäfte gemacht hätten.“
Hochtönendes Geschwätz
In einem Leserbrief an die SZ schreibt der Professor: „Keine der angeblichen neuen Schreibdidaktiken hat eine nachweisbare Verbesserung gebracht. Um so größer ist der rhetorische Aufwand, mit dem sie vertrieben werden. Neu ist bloß das hochtönende Geschwätz, dessen man sich früher geschämt hätte.“
Wer sich über das seltsam ungelenke Schriftbild der Jugendlichen wundert, sollte einfach wissen, daßmittlerweile fast in allen sich modern wähnenden Grundschulen die Druck- vor der Schreibschrift vermittelt wird. So können weder zügiger Schreibfluss noch schöner Duktus entstehen.
Was bleibt? Irgendwann wird wahrscheinlich eine nächste Rechtschreibreform „liberalisierend“ auf die Defizite reagieren und alles nur Mögliche gestatten. Da die Sprache Geschwisterteil des Denkens ist, wird durch diese Kulturpolitik mehr gefährdet als das Vermögen, einen Brief schreiben zu können oder in der Vorlesung Gedankengänge zu protokollieren.