In den zahlreichen Büchern und Artikeln zum Thema Internet wird ein Aspekt regelmäßig übergangen. Der war so konsequent aus öffentlichen Diskursen verbannt, daß sein Wiederauftauchen in neuer Nische gar nicht mehr auffällt. Für Alain de Benoist gehört er zu den Adelsprädikaten gelungener Sozialisation. Die Rede ist von der „Großzügigkeit“. In Zeiten, in denen Geiz geil ist oder zumindest falsche Sicherheit suggeriert, scheint der entspannte Glamour des Großzügigen noch irrealer als die Rückkehr zur Kutsche als Verkehrsmittel.
Weshalb sie ja auch „nur“ im virtuellen Raum Wiederauferstehung feiert. Mag physisches Zusammenleben von quasi-darwinistischem Vokabular durchseucht sein, im Internet lebt der Mensch seinen Wunsch nach Spendierfreude, Mitfreude und Teilen in verschwenderischer Dimension. Kein Wunder, ist doch die Großzügigkeit – mag man es noch so gern verdrängen – Bestandteil der Conditio Humana. Man muß sich einmal klarmachen, wieviel Arbeit, Mühe und Geld die Erstellung unzähliger Netzseiten gekostet hat. Wie wenig sie einspielen, selbst wenn die Ränder mit Werbebuttons übersät sind.
Natürlich treibt viele Nutzer der Narzißmus um, wenn sie alle Welt via Foto-Scan mit ihrem Alltags- und Urlaubshorror belästigen. Doch dem läßt sich viel entgegenhalten: Man denke nur an Wikipedia-Artikel, die ohne Honorar und anonym verfaßt werden. Von denen viele – der Stichproben-Vergleich im Stern hat es gezeigt – durchaus neben lexikalischen „Sauriern“ wie dem Brockhaus oder dem Meyer bestehen können. Hier lohnt sich Leistung wieder mal gar nicht: Kein sozialer Aufstieg, keine Tantiemen.
„Virtuelle Altäre“
Wie viele Sammler bieten Bücher, Musik und Filme zum Gratis-Herunterladen an? Fans einer Schauspielerin, eines Sportvereins, einer Subkultur machen jedes Foto, jede Information, jeden Artikel allen gleichgesinnten Internetnutzern zugängig, übernehmen sogar kostenfreie Sammelbestellungen für Eintrittskarten und andere Dienstleistungen, die sich Agenturen sonst teuer bezahlen ließen. Selbst da bleiben die Leistungsträger anonym, verraten vielleicht höchstens Benutzernamen oder lassen sich allenfalls kleingedruckt im Impressum nennen.
Selbstredend findet sich auch religiöse Hilfe und Praxis im Netz: So stehen den Gläubigen aller Couleur „virtuelle Altäre“ zur Verfügung. Da lassen sich zum Beispiel virtuelle Opfergaben für St. Joseph darbieten.
Bitten an einen Engel können ausgesprochen werden, und Anhänger des tibetischen Buddhismus besuchen eine virtuelle Stupa. Die zahlreichen „Klicks“ auf solchen Seiten sprechen für einen hohen Bedarf. Die theologischen und religionssoziologischen Konsequenzen dieser neuartigen Spiritualität sind bislang nicht einmal im Ansatz diskutiert worden.
Radikale Kommerzialisierung
Freilich sorgt die „großzügige Netzwelt“ unter zahlreichen Zeitgenossen auch für Unruhe. Bei diversen Pädagogen beispielsweise, für die das verschwenderische Geben und Nehmen die Gefahr des Sich-Verlierens birgt und die eine Überforderung besonders der jugendlichen Psyche befürchten. Nicht ganz zu Unrecht. Nur sollten sich diese Erzieher fragen, wer oder was die schwache Seelen-Struktur ihrer Zöglinge verschuldet hat.
Nicht weniger beunruhigt über das Internet sind manche Konzernchefs. Die träumen von einer radikalen Kommerzialisierung des Mediums. Das reicht bis zur Einführung eines virtuellen Portos für E-Mails – freilich nur zum Besten der Nutzer. Schließlich würde diese Gebühr diverse „Spam“-Aussender abschrecken. Bislang ist jedoch kaum jemand darauf hereingefallen. So gereicht doch wenigstens die Großzügigkeit im Internet – trotz all der Nachteile dieses Mediums – den Menschen zur Ehre; zwar nur virtuell, aber immerhin…