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Frankensteins Talfahrt

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Festhalten, demographisch saust der Westen in den Abgrund! Folglich nimmt die „Angst des weißen Mannes“ (Peter Scholl-Latour) vor dem eigenen Verschwinden zu. Man macht die kinderfeindliche Politik verantwortlich, empfiehlt finanzielle Förderprogramme und wirft heutigen Paaren geballten Egoismus vor. Oder man erklärt das Phänomen ausschließlich auf nationaler Ebene mit einem – mehr oder minder unbewußten – Todestrieb der Deutschen, hervorgerufen durch ein Schuldtrauma aus jüngster Vergangenheit, nach dem Motto: „Ein Volk will verschwinden“.

Das mag für manchen die hiesige Geburtenschwäche erhellen, kann aber nicht für das gesamte Abendland gelten. Wieder andere projizieren ihre Angst auf fortpflanzungswilligere Kulturen wie beispielsweise den Islam. Würde ein Muslim fragen: „Wenn ihr den Bau einer Moschee in eurer Stadt verhindern wollt, was würdet ihr statt dessen errichten?“, dann käme nach langem, sehr langem Verlegenheitsschweigen sicher nur die kleinlaute Antwort: „Wie wär´s mit einem Shoppingcenter…?“ Was hätte unsere Kultur auch sonst zu bieten, nachdem ihr seit zwei Jahrhunderten jede spirituelle Perspektive abhanden gekommen ist?

Betäubungsgüter

Und wie sieht es im Alltag aus? Man schuftet in schwachsinnigen Jobs, um vom Gehalt noch blödere Betäubungsgüter zu erwerben: Die nächste Generation Blue-Ray-Player, das neueste Handy und endlich auch den iPad, denn auf dessen glatter Oberfläche lassen sich ganz toll „Kokslinien ziehen“ (Helene Hegemann). Da vergißt man glatt die eigene Sterblichkeit. Das ist auch besser so, denn an ein Leben nach dem Tod glaubt heute eh keiner mehr. Einmal vollfressen, dann abkratzen – mit einem derart „anspruchsvollen“ Lebensplan kommt mancher zwar durch, aber wer möchte denn solch eine Existenz, die nur aus schnellstmöglicher Konsumoptimierung besteht, weiterreichen?

Deshalb „will“ der westliche Mensch verschwinden, oder milder formuliert: Er will nicht mehr fortbestehen. „‘Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?’ fragt der letzte Mensch und blinzelt.“ (Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“).

Protest des Unbewußten

Fortpflanzungsverweigerung ist wie Depression oder Burnout ein Protest des Unbewußten. Im technisch-naturwissenschaftlichen Zeitalter, von Ernst Jünger als das „titanische“ bezeichnet, in dem die Beherrschung des Lebens in greifbare Nähe rückte, begann der Mensch vom Sieg über den Tod, von individueller Unsterblichkeit – nicht im Himmel, sondern auf Erden – zu träumen. Diesen Wendepunkt in Sachen Todesbewältigung markiert Mary Wollenstonecraft-Shelleys Roman „Frankenstein“ (1818). Darin erzählt die damals erst 19jährige Autorin von einem jungen Naturwissenschaftler, Viktor Frankenstein, der besessen ist von der Idee, Leben nicht durch Zeugung, sondern durch Wiedererweckung toter Organismen zu erschaffen.

Seine Idee von individueller Unsterblichkeit, die Forschungen an der Universität Ingolstadt und das Resultat – der künstliche Mensch – hält Frankenstein während des gesamten Romans davon ab, seine Verlobte Elisabeth zu heiraten und sich mit ihr „zu vereinigen“, sprich Kinder zu zeugen. Seine biotechnische Version von Auferstehung verdrängt die „Unsterblichkeit“ durch Reproduktion.
Folglich vergleicht die Autorin ihren Helden schon im Titel mit dem radikalsten der Titanen: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ – so lautet die Romanüberschrift in voller Länge.

Todesbewältigung

Heute, 200 Jahre später, ist die Biologie mit der Gentechnik derart fortgeschritten, daß es unter modernen Wissenschaftlern bereits „Immortalisten“ gibt. Die postulieren nicht nur, daß eine wesentliche Verlängerung des Lebens, sondern die vollständige Abschaffung des Todes möglich ist, weil bald jeder Organismus vollständig reparabel sei.

Bei solcher Erwartung verkörpert der Nachwuchs nicht mehr das Fortbestehen des Lebens, im Gegenteil: Als jüngste Generation erinnert er die Eltern an das eigene Altern und Sterben. Dies zu kaschieren hält ganze Wirtschaftszweige in Atem, von der Medizin bis zur Wellneß-Industrie.? Aus dieser Perspektive ist ein demographisches Absinken „titanischer“ Kulturen nur folgerichtig. Also ist die moderne Zeugungsverweigerung auch ein Resultat postmetaphysischer Todesbewältigung.  

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