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Eine kurze Geschichte des Mißbrauchs

Eine kurze Geschichte des Mißbrauchs

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Eine kurze Geschichte des Mißbrauchs

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Jede Generation hat ihre eigenen „wunden Punkte“ – Mißstände, die man als besonders schwerwiegend (an-)erkennt. Gefährlich ist es, wenn steigende Beachtung mit dem Anwachsen des Phänomens selbst verwechselt wird. Das könnte zum Beispiel für die derzeitige Mißbrauchsdebatte gelten. Nicht wenige glauben: Die körperliche Ausbeutung Wehrloser war nie so stark verbreitet wie heute. So kommentierte Bischof Walter Mixa die Kritik am Mißbrauch in kirchlichen Einrichtungen: Daran sei das Sinken gesellschaftlicher Moral- und Schamgrenzen mit schuld.

Gewiß hat die „sexuelle Revolution“ von 1968ff. als Gegnerin bürgerlicher Sexualmoral in der Tabuisierung von Pädophilie nur die Leugnung des frühkindlichen Sexus erkannt. Ein verhängnisvoller Fehlschluß, der die Zulassung, gar Förderung pädophiler Akte als Beitrag zur sexuellen „Befreiung“ legitimierte. Daß dies manchem Täter ein „gutes“ oder „besseres“ Gewissen macht(e), sei ebenfalls unbestritten.

Fraglich ist nur, ob der bürgerliche Moralkodex den Mißbrauch einst in engeren Grenzen hielt oder im Sinne der Doppelmoral nur eine andere Form von Täterschutz bot – durch öffentliches Schweigen und schamhaft verstummte Opfer. Der menschliche Verstand verfügt nämlich über die finstere Kreativität, eigene Regelverstöße zu „rechtfertigen“ und das Gewissen zu beruhigen.

Ursache seelischer Erkrankung

Auch Rolf Trauernicht, der im JF-Interview Zusammenhänge zwischen der heutigen Gesellschaft und der Quantität von Mißbrauchsfällen nicht trennen mag, muß eingestehen, daß wir „viel zu wenig über das tatsächliche Ausmaß an sexuellem Mißbrauch in früheren Epochen der Geschichte“ wissen. Trotzdem finden sich Indizien, und die lassen zweifeln. So etwa bei Sigmund Freud aus den frühen Tagen der Psychoanalyse: Eine Vielzahl seiner Patienten erinnerte sich im Lauf der Therapie an frühkindlichen Mißbrauch. Freud erklärte diese sexuellen Übergriffe zur Ursache seelischer Erkrankung. Besonders erschreckend war deren Häufigkeit. Freuds Kollegen reagierten aggressiv, ein Skandal bahnte sich an. Schließlich ruderte der Wiener Seelenarzt zurück und erklärte besagte Erinnerungen als rückprojizierte Phantasie der Patienten. Das Erinnerte sollte nicht länger die Ursache bezeichnen, sondern seinerseits neurotisches Symptom sein.

Kritiker wie Jeffrey M. Masson (in seinem Buch „Was hat man Dir, Du armes Kind, getan?“) haben dem Vater der Analyse seine „Ehrenrettung der Wiener“ übelgenommen. In der Tat hatten bereits zeitgenössische Sexualforscher auf die Hochzahl an Kinderprostitution in den Städten anno 1900 verwiesen, bestätigt durch Beispiele aus der Kunst: Als deren berühmtestes darf der Roman „Josefine Mutzenbacher“ (1906) gelten. Grafiken und Flagellationsfotos mit Kindern stützen diese Erkenntnis.

Die Surrealisten, selbsternannte Freud-Adepten, vergaßen die Verführungstheorie indes nicht, zeigte sie doch beispielhaft die Verderbnis „bürgerlicher“ Herrschaftsstruktur. Vor allem deren wichtigster Stützpfeiler, die Familie, wurde von den Avantgardisten zur Brutstätte der Neurosen erklärt. Als die junge Französin Violette Nozière ihren inzestuösen Vater tötete (1979 von Claude Chabrol mit Isabelle Huppert in der Titelrolle verfilmt), erschien eine Solidaritätsbroschüre, in der namhafte Surrealisten wie Max Ernst, Salvador Dali, René Magritte, Paul Éluard, René Char, André Breton und andere Texte und Bilder publizierten. „Violette hat geträumt zu zerteilen“, rief darin der Dichter Paul Éluard, „und sie hat zerteilt / Das schreckliche Schlangenknäuel der Blutsbanden“.

Betroffene müssen aktiv Hilfe aufsuchen

Hier galt die „bürgerliche Moral“ nicht als Schutz vor sexuellem Übergriff, sondern als dessen Protektor. Allerdings irrten die Surrealisten, denn das Problem betraf nicht allein den „Bourgeois“, sondern alle gesellschaftlichen Klassen. So erklärte im 18. Jahrhundert der Marquis de Sade den Mißbrauch als in Adelskreisen obligatorisch. Seine Romane „Die 120 Tage von Sodom“, „Justine und Juliette“ sowie der Dialog „Die Philosophie im Boudoir“ schildern derartige Verbrechen auf fast jeder Seite. Man mag de Sade als übertreibenden Karikaturisten seines Standes bezeichnen, aber selbst ein dreißigprozentiger Wahrheitsgehalt käme dem heutigen „Standard“ gleich.

Geht man weitere 300 Jahre zurück, stößt man zum Beispiel auf Gilles de Rais, Hauptmann in der Armee Jeanne d‘Arcs. Dieser „Edelmann“ vergewaltigte und ermordete unzählige Kinder. Wer hätte auch einem Gutsherrn, einem Grafen oder gar Fürsten etwas anhaben können? Oder den Sklavenhaltern von der Antike bis ins 19. Jahrhundert? – Wahrscheinlich ist kein moralischer Kodex, keine Lebensform in der Lage, Vergehen auf der Triebebene zu verhindern. Dafür ist sie dauerhaft zu drängend, zu heftig.

Individuen wie der verklemmte Mathematiker Lewis Carroll dürften zu den Ausnahmen zählen: Der „sublimierte“ seine Pädophilie, indem er angebeteten Mädchen Briefe schrieb und sie fotografierte. Als Carroll sich in das junge Mädchen Alice Liddell verliebte, verfaßte er seinen Klassiker „Alice im Wunderland“. In vielen Fällen gilt solche Disposition als therapierbar. Dazu aber muß der Betroffene aktiv Hilfe aufsuchen. Zu solcher prophylaktischen Therapie nicht nur aufzufordern, sondern auch zu ermutigen, könnte – ähnlich wie bei potentiellen Amokläufern – künftige Opferzahlen zumindest senken. 

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