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Die Revolution der Schlamuffen

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Die Revolution der Schlamuffen

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Jede menschliche Gesellschaft, die jemals als lebensfähiges Gemeinwesen existierte, bindet den einzelnen in irgendeiner Weise ein. Sie formt, sie modelliert, sie gibt Regeln, Gesetze und Verbote. Manchmal kann diese Einbindung mit der Zeit so mächtig werden, daß sie als äußerer Zwang die inneren Kräfte des Menschen abtötet und schlußendlich als ganzes stirbt.

Als Korrektiv kannten daher viele Kulturen bestimmte, heilige Zeiten, in denen die ehernen Gesetze der Gesellschaft aufgehoben schienen. Sexuelle Restriktionen wurden gelockert, kriegerische Stämme ließen ihre Fehden ruhen, der römische Sklave ließ sich von seinem Herrn bedienen und dergleichen mehr. Kurzum: Für eine Weile war in einer Gesellschaft das Schiefe gerade, das Gerade schief.

Vor diesem Hintergrund ist auch unser Faschingsbrauch zu sehen. Doch stellt sich die Frage, ob wir ihn überhaupt noch brauchen. Denn seit der Revolution von 1968 ist es erklärtes Ziel, den gesellschaftlichen Zwang als solchen dauerhaft abzuschaffen. In der Tat trägt unsere Gesellschaft schon deutliche Züge eines permanenten Karnevals. Enthemmung aller Triebe auf dem Weg zum Paradies auf Erden. Oder etwa nicht?

Schöpferische Kraft aus Leid

Michael Ende läßt in der „Unendlichen Geschichte“ die bedauernswerten Geschöpfe der Acharai auftreten, deren Tränen jedoch die wundersamsten Kunstwerke hervorbringen. Eine ganze Zauberstadt wird hieraus erbaut. Durch den Gnadenakt eines unverständigen Knaben werden diese Wesen jedoch in die bunten, immerfröhlichen Schlamuffen verwandelt. Als Fluch brechen sie über ihn herein.

„Was du da aus uns gemacht hast, war anfangs ganz lustig, aber jetzt langweilen wir uns zu Tode“, schimpfen sie den Knaben. „Wir können nicht einmal ein richtiges Spiel spielen, weil wir keine Regel haben. Lächerliche Hanswurste hast du aus uns gemacht mit deiner Erlösung!“ Verzweifelt wählen die Nutzlosen ihn zum Anführer: „Wir wollen, daß du uns Befehle gibst, daß du uns herumkommandierst, daß du uns zu irgend etwas zwingst, daß du uns irgend etwas verbietest!  Wir wollen, daß unser Dasein zu irgendetwas da ist!“

Sind die Parallelen zur Gegenwart nicht überdeutlich? Während man ein lächerliches „buntes Bürgerfest“ nach dem anderen abfeiert gegen die Spielverderber von Rechts, die von Pflicht, Verantwortung und anderen beschwerlichen Dingen reden, werden in den Köpfen doch schon längst die Instrumentarien von Befehl und Gehorsam organisierter Massen eingeübt. Die Schlamuffen, so scheint es, sehnen sich uneingestanden nach einer harten, führenden Hand.

Fasching als Vorbereitung zur Katharsis

Es ist ein Irrtum, in jenen Ausnahmezuständen etwas zu sehen, das für die übrige Zeit des Jahres erstrebenswert war. Im Gegenteil dienten sie auch zur Veranschaulichung, was den Zweck sozialer Hegung ausmacht. Besonders deutlich ist dies am Faschingsbrauch abzulesen. Heute wundert man sich, wieso die Kirche des Mittelalters blasphemische Handlungen wie die Verhöhnung der christlichen Messe zulassen konnte. Selbst der Leibhaftige erschien oft in diesen Riten.

Dieses Bild, das zunächst nicht so recht mit der mittelalterlichen Frömmigkeit zusammengehen will, wird verständlich, wenn man das christliche Menschenbild berücksichtigt. Denn hier ist der Mensch, der sich ganz seinen Trieben hingibt, ein Besessener. Die Zeit der Zügellosigkeit bedeutet die Herrschaft des Teufels, die civita diaboli. Durch Huldigung an den Gehörnten erlebte man im eigenen Spott die Verspottung Christi nach, die sich Karfreitag in Gefühle von Sünde, Verrat und Schuld wandeln müssen.

In allen Kulturen ist zu sehen, wie jene rauschhaften Entgrenzungen selbst wieder als produktive Kräfte integriert werden, um die von Verhärtung bedrohte Gesellschaft periodisch zu verjüngen. Darüber hinaus kann man am christlichen Faschingsfest studieren, wie für den individuellen Menschen Reue und Buße einen kathartischen Prozeß auslösen sollen, in dem sein Ewiges vom Vergänglichen geschieden werden kann.

Wir dagegen leben in einer Zeit ohne Grenzen oder Umkehrpunkten. Kein Gefühl für Maß, kein Gefühl für Rhythmus, ein gleichförmig dahin sickernder Strom ohne Ziel und Zweck. Das ewigwährende Bacchanal erschlaffter Leidenschaften ohne irgendeine schöpferische Gewalt. „Wir haben das Glück erfunden“, sagen die letzten Menschen. Und blinzeln.

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